Türkei
14.04.2017
Verfassungsreferendum ohne Medienvielfalt
Wegen der massiven Einschränkung der Medienfreiheit in der Türkei zweifelt Reporter ohne Grenzen (ROG) an der Gültigkeit des bevorstehenden Verfassungsreferendums. Der Wahlkampf hat inmitten einer Repressionswelle beispiellosen Ausmaßes gegen unabhängige Medien stattgefunden. Deshalb konnte die von der Regierung vorgeschlagene, für die politische Zukunft des Landes entscheidende Reform nur völlig unzureichend öffentlich diskutiert werden.
Dies wiegt umso schwerer, als etwa Menschenrechtsorganisationen die geplante Verfassungsreform scharf kritisieren und die Verfassungsexperten des Europarats vor einem „gefährlichen Rückschlag“ für die Demokratie sowie vor der Entwicklung eines „Ein-Personen-Regimes“ gewarnt haben.
„Die drastische Beschneidung der Medienvielfalt und der immer weiter zunehmende Druck auf kritische Journalisten haben die Freiräume für eine demokratische Auseinandersetzung erheblich verringert“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wie sollen die Bürger der Türkei ohne Zugang zu einer umfassenden Medienberichterstattung und zu einem breiten Meinungsspektrum eine informierte Entscheidung treffen? Demokratie braucht Medienfreiheit, und die muss sofort wieder erlaubt werden.“
Einseitiger Wahlkampf
Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beobachten den Wahlkampf für das Verfassungsreferendum seit Anfang März und haben am vergangenen Wochenende ihren Zwischenbericht vorgelegt. Der Direktor des zuständigen OSZE-Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), Michael Link, kritisierte, es gebe „ein deutliches Übergewicht der Pro-Bewegung in den AKP-nahen Medien, die mit großem Abstand die Berichterstattung im Fernsehen und im Printbereich dominieren“.
Im Zuge des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch im vergangenen Juli ausgerufen wurde, haben Regierung und Justiz die Medienvielfalt in der Türkei fast völlig ausgelöscht. Mehr als 150 Medien wurden wegen vermeintlicher Zusammenarbeit mit „terroristischen“ Organisationen geschlossen.
Einigen von ihnen, darunter den Zeitungen Zaman, Bugün, Millet und Taraf, wurde eine Zusammenarbeit mit der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, die nach Darstellung der Regierung hinter dem Putschversuch stand. Andere wie die Fernsehsender IMC und Hayatin Sesi wurden der Kooperation mit der verbotenen kurdischen Untergrundorganisation PKK bezichtigt. Im Ergebnis sind ganze Teile der Medienlandschaft per Federstrich ausgelöscht worden. Viele Teile der Gesellschaft sind dadurch ihrer gewohnten Vielfalt an Nachrichten- und Informationsquellen beraubt worden.
Ausgewogene Berichterstattung per Dekret abgeschafft
Diese vernichtenden Schläge bilden aber nur den vorläufigen Höhepunkt eines fortgesetzten Angriffs auf die Medien, der schon vor rund einem Jahrzehnt begonnen hat. Seitdem wurden führende Medien entweder vom Staat übernommen oder von regierungsnahen Investoren aufgekauft. Politische Einflussnahme, Selbstzensur und die Entlassung kritischer Journalisten sind dabei alltäglich geworden. So haben nach den Recherchen des ROG-Projekts Media Ownership Monitor sieben der zehn Besitzer der meistgesehenen landesweiten Fernsehsender direkte Verbindungen zu Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung.
Mit einem Dekret, das am 10. Februar in Kraft getreten ist, hat die Regierung den Artikel des Wahlgesetzes aufgehoben, der Rundfunk und Fernsehen unter Androhung von Geldstrafen oder einer Suspendierung verpflichtete, in Wahlkämpfen allen Seiten gleich viel Sendezeit einzuräumen. Mit der Streichung dieses Artikels hat die Regierung den letzten Schutz gegen eine offene „Ja“-Kampagne der regierungstreuen Medien beseitigt. Die Hohe Wahlkommission flankierte den Schritt, indem sie die einjährige Frist für das Inkrafttreten von Änderungen am Wahlgesetz für hinfällig erklärte.
Staatliche Medien werben für Zustimmung zum Referendum
Am 27. März reichte ein Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP bei der Rundfunkaufsicht RTÜK eine Beschwerde darüber ein, dass der staatliche Fernsehsender TRT Haber einseitig berichte. Zwischen dem 1. und dem 22. März habe der Sender 1390 Minuten über Präsident Erdogan und 2723 Minuten über die Regierungspartei AKP berichtet, aber nur 216 Minuten über die größte Oppositionspartei CHP und 48 Minuten über die nationalistische MHP. Die HDP sei in diesem Zeitraum überhaupt nicht in der Berichterstattung von TRT Haber vorgekommen. Auch Parlamentsabgeordnete der CHP haben Beschwerde gegen TRT Haber eingelegt.
„Nein“-Wähler werden dämonisiert
Während des ganzen Wahlkampfs herrschte ein Klima der Einschüchterung gegen Unterstützer eines „Nein“ zu den Verfassungsänderungen, das auch Journalisten und Medien zu spüren bekamen. So weigerte sich Mitte Februar die Zeitung Hürriyet, ein Interview mit Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk abzudrucken, in dem der weltbekannte Autor ankündigte, gegen die Verfassungsreform zu stimmen.
Wenige Tage zuvor hatte die Dogan-Mediengruppe, zu der auch Hürriyet gehört, einen bekannten Moderator des Fernsehsenders Kanal D gefeuert, weil er per Twitter erklärt hatte, warum er mit „Nein“ stimmen wolle. Eine Sendung von Haber Türk nahm Anfang März den bereits eingeladenen ehemaligen MHP-Parlamentsabgeordneten Yusuf Halacoglu wieder aus dem Programm, der als Gegner der Verfassungsreform bekannt ist.
Regierungstreue Medien schrecken auch nicht davor zurück, Vertreter eines „Nein“ zum Referendum zu dämonisieren. Ausgiebig greifen etwa die Zeitungen Takvim, Aksam, Günes, Sabah, Yeni Akit und Yeni Safak die heftigen Angriffe der Regierung auf die Opposition auf. Damit tun sie es Präsident Erdogan gleich, der die Gegner des Referendums in die Nähe der Putschisten vom vergangenen Juli gerückt hat.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nimmt die Türkei Platz 151 von 180 Ländern ein.
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