Saudi-Arabien
01.10.2019
Keine Normalisierung ohne Aufklärung
Zum Jahrestag des Mordes an Jamal Khashoggi fordert Reporter ohne Grenzen (ROG) Saudi-Arabien auf, endlich eine vollständige Aufklärung dieses Verbrechens durch eine unabhängige internationale Untersuchung zuzulassen. Zugleich fordert ROG die bedingungslose Freilassung aller 30 Medienschaffenden, die derzeit in Saudi-Arabien wegen ihrer Tätigkeit in Haft sind oder unter Hausarrest stehen.
„Solange Saudi-Arabien eine umfassende Aufklärung des Mordes an Jamal Khashoggi behindert, darf es keine Normalität im Umgang mit diesem Staat geben“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Dieses Staatsverbrechen hat die ganze Brutalität einer gnadenlos unterdrückerischen Politik gegen Kritikerinnen und Kritiker zutage gebracht – einer Politik, die auf Folter, Verschleppung und Mord beruht. Wenn Kronprinz Mohammed wirklich Verantwortung übernehmen will, sollte er alle in seinem Königreich inhaftierten Medienschaffenden sofort und bedingungslos freilassen und dafür sorgen, dass endlich die ganze Wahrheit über den Khashoggi-Mord ans Licht kommt.“
Ebenso bekräftigt Reporter ohne Grenzen seine Forderungen, dass Saudi-Arabien Ende des Jahres ohne ein glaubhaftes Signal für die Pressefreiheit nicht die rotierende G20-Präsidentschaft übernehmen darf und dass die Bundesregierung darauf verzichten muss, die zuletzt ausgesetzte Polizei-Kooperation mit dem Königreich wiederaufzunehmen.
Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman hat in einem vor wenigen Tagen ausgestrahlten Interview mit einem US-Fernsehsender eine politische Verantwortung für die Tat eingeräumt. Er beharrt aber auf der Darstellung, dass er die Tat weder in Auftrag gegeben noch von ihr gewusst habe – was nach allem, was über den Mord bekannt ist, sehr wahrscheinlich eine Lüge ist. Mit der Untersuchung einer UN-Sonderberichterstatterin hat Saudi-Arabien nicht kooperiert.
Saudi-Arabien behindert Aufklärung des Mordes
Der in den USA lebende saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi war am 2. Oktober 2018 im Konsulat seiner Heimat im türkischen Istanbul von einem 15-köpfigen, eigens aus dem Königreich angereisten Kommando ermordet worden. Sfeine Leiche wurde am Tatort mutmaßlich mit einer Knochensäge zerstückelt und bis heute nicht gefunden.
Dank zahlreicher Medienberichte, die vor allem auf türkischen Geheimdienstinformationen beruhen, sowie dank einer Untersuchung der UN-Sonderberichterstatterin zu außergerichtlichen Hinrichtungen, Agnes Callamard ist der Ablauf des Verbrechens bis in viele Details bekannt. Ungeklärt ist neben dem Verbleib der Leiche, wer den Befehl zur Tötung Khashoggis gab. Der im Juni veröffentlichte Callamard-Bericht kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Indizien für eine Verwicklung der saudi-arabischen Führung einschließlich Kronprinz Mohammeds ausreichten, um weitere Untersuchungen gegen sie zu rechtfertigen.
Saudi-Arabien hatte die Tat zunächst geleugnet, dann eingeräumt und als ungeplantes Fehlverhalten der in Istanbul unmittelbar Beteiligten dargestellt. Elf Männern wird seit Januar in Saudi-Arabien unter Ausschluss der Öffentlichkeit wegen des Mordes der Prozess gemacht. Fünf von ihnen droht die Todesstrafe; durch ihre Hinrichtung würde die Wahrheit über die Hintergründe des Mordes an Khashoggi womöglich dauerhaft vertuscht. Ein zunächst als Mittäter benannter enger Vertrauter des Kronprinzen ist nicht unter den Beschuldigten. Lediglich die Türkei und die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats dürfen gelegentlich Beobachter zu dem Prozess entsenden, aber nichts über dessen Inhalte bekanntmachen.
30 Medienschaffende in Saudi-Arabien gefangen
Derzeit hält Saudi-Arabien 30 Journalistinnen und Journalisten, Bloggerinnen und Blogger gefangen, weil sie ihr Menschenrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit ausgeübt haben. Unter ihnen ist zum Beispiel Saleh al-Schehi, ein Journalist der Zeitung Al-Watan, der wegen „Beleidigung des königlichen Hofes“ zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Nach wie vor in Haft ist auch der Blogger Raif Badawi, der 2014 zu tausend Stockhieben und zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er in einem Internetforum Debatten über Fehlentwicklungen in der saudi-arabischen Gesellschaft initiiert hatte.
Ebenso gehören zu den Gefangenen mehrere Frauenrechtsaktivistinnen wie Nur Abdulasis und Nassima al-Sada, die im Juni und Juli 2018 verhaftet wurden. Al-Sada wird seit Februar in Isolationshaft gehalten. Zwei der 30 ursprünglich Inhaftierten, die ebenfalls 2018 verhafteten Frauenrechtlerinnen Eman al-Nafjan und Hatun al-Fassi, wurden im Frühjahr 2019 aus dem Gefängnis in den Hausarrest verlegt. Kurzporträts aller 30 Medienschaffenden, die derzeit von Saudi-Arabien wegen ihrer journalistischen Arbeit festgehalten werden, sind hier zu finden.
Die Zahl der in dem Königreich inhaftierten Journalistinnen und Journalisten, Bloggerinnen und Blogger hat sich verdoppelt, seit Mohammed bin Salman 2017 zum Kronprinz ernannt wurde. Saudi-Arabien gehört weltweit zu den Staaten mit den meisten inhaftierten Medienschaffenden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht es auf Platz 172 von 180 Ländern.
Repressive Straf-, Anti-Terror- und Internetgesetze ermöglichen in Saudi-Arabien lange Haftstrafen sowie Veröffentlichungs- und Reiseverbote für kritische Medienschaffende. Aller Reformrhetorik zum Trotz wurde die Repression zuletzt noch verstärkt. Viele Medienschaffende sind willkürlich inhaftiert, die meisten werden wohl gefoltert. Selbst Journalistinnen und Journalisten im Ausland gehören Medienberichten zufolge zu den Zielen von Hackerangriffen im Auftrag Saudi-Arabiens.
Eine Delegation von ROG war im April nach Riad gereist und hatte sich dort persönlich bei Regierungsvertretern für die Freilassung aller inhaftierten Journalistinnen und Journalisten eingesetzt.
Protestaktionen in vielen Ländern
Zum Jahrestag des Mordes an Jamal Khashoggi hat Reporter ohne Grenzen am Dienstag (1.10.) vor der Botschaft Saudi-Arabiens in Berlin mit einem überdimensionalen Schild protestiert, das Besucherinnen und Besucher der diplomatischen Vertretung auf die Gefahr aufmerksam macht, ermordet und zerstückelt zu werden. Vor Saudi-Arabiens Konsulat in der französischen Hauptstadt Paris platzierten ROG-Aktivistinnen und -Aktivisten Dutzende in ihre Einzelteile zerlegte Schaufensterpuppen, die Westen mit der Aufschrift „Presse“ trugen. Weitere Protestaktionen und Demonstrationen waren in Washington, Madrid, Stockholm und Istanbul geplant.
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