Syrien
14.07.2016
Colvin-Hinterbliebene verklagen Assad-Regime
Die Hinterbliebenen der 2012 in Syrien getöteten US-Kriegsreporterin Marie Colvin verklagen mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen die Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Mit Hilfe von Informationen hochrangiger Überläufer und von syrischen Regierungsdokumenten zeigt ihre Klage detailliert die direkte Verantwortung hochrangiger Regimevertreter für die gezielte Ermordung Colvins. Der tödliche Granatenangriff auf ein Untergrund-Medienzentrum in der belagerten Stadt Homs am 22. Februar 2012 war demnach Teil der Strategie des Assad-Regimes, unabhängige Journalisten auszuschalten, um ohne störende internationale Aufmerksamkeit gegen die Zivilbevölkerung vorgehen zu können.
Die US-Menschenrechtsorganisation Center for Justice and Accountability (CJA) hat die Klage jetzt im Namen von Colvins Schwester Cathleen Colvin, ihrer Nichte Justine-Araya Colvin und weiterer Hinterbliebener bei einem Bundesgericht in der US-Hauptstadt in Washington eingereicht. Darin bezeichnen die Angehörigen die Tötung Marie Colvins als Kriegsverbrechen und fordern von Syrien eine Entschädigung in ungenannter Höhe. ROG hatte den Kontakt zwischen der Familie Colvin und dem CJA hergestellt und hat durch sein internationales Netzwerk die mehrjährigen Recherchen zu dem Fall unterstützt.
„Diese Klage zeigt, dass es möglich ist, die Verantwortlichen für Verbrechen an Journalisten juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die viel zu verbreitete Straflosigkeit für Morde und andere Gewalttaten an Journalisten“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Durch dieses Verfahren kann hoffentlich bald niemand mehr bestreiten, dass Marie Colvin und ihre Kollegen gezielt angegriffen wurden, weil sie über die Verbrechen der syrischen Armee an der Zivilbevölkerung berichtet hatten.“
Im Kampf gegen Straflosigkeit für derartige Taten hat ROG den UN-Sicherheitsrat schon im April 2015 aufgefordert, die Kriegsverbrechen an Journalisten in Syrien und im Irak dem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. Derzeit wirbt die Organisationen bei den Vereinten Nationen intensiv für die Einsetzung eines UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalisten.
Gezielte Überwachung und Ermordung von Journalisten
Die renommierte Kriegsreporterin Colvin war im Februar 2012 heimlich in die von Regimetruppen belagerte Aufständischen-Hochburg Homs gereist, um im Auftrag der britischen Zeitung The Sunday Times über die verzweifelte Lage der Zivilbevölkerung zu berichten. Als Basis diente ihr ein von syrischen Bürgerjournalisten betriebenes improvisiertes Medienzentrum in einem Wohnhaus. Bei dem Granatenangriff auf das Zentrum wurde auch der französische Fotograf Rémi Ochlik getötet; Colvins britischer Fotograf Paul Conroy, ihr syrischer Stringer und Übersetzer Wael al-Omar sowie die französische Journalistin Edith Bouvier überlebten schwer verletzt.
Die Klageschrift zeichnet detailliert nach, wie syrische Geheimdienste schon vor Colvins Einreise aus dem Libanon die Spur der Journalistin aufnahmen, ihre elektronische Kommunikation überwachten und dann mit Hilfe abgefangener Sendesignale das Medienzentrum orteten. Eine Informantin habe schließlich den entscheidenden Tipp gegeben, dass sich ausländische Journalisten in dem Medienzentrum aufhielten und wo sich dieses befinde. Daraufhin sei das Zentrum mit gezieltem Granatenbeschuss immer enger in die Zange genommen worden; selbst die auf die Straße geflohenen Überlebenden seien noch beschossen worden.
Ebenso weist die Klage nach, wie hochrangige Regimevertreter – darunter Präsident Assads Bruder Maher al-Assad, der damalige Vize-Verteidigungsminister Assef Schaukat und der Chef des wichtigsten zivilen Geheimdienstes, Ali Mamluk – Geheimdienste und Armee anwiesen, gegen alle vorzugehen, die „das Ansehen Syriens in ausländischen Medien und internationalen Organisationen beschmutzen“. Unter anderem seien Listen gesuchter ausländischer Journalisten und syrischer Aktivisten mit mutmaßlichen Kontakten zu ausländischen Medien an Kontrollposten verteilt und Belohnungen für das Aufspüren ausländischer Reporter ausgelobt worden. An der gezielten Überwachung und Ermordung von Journalisten hätten auch Mitglieder der regimenahen „Schabiba“-Milizen mitgewirkt.
ROG tritt schon seit 2013 als Nebenklägerin in den Ermittlungen der französischen Justiz zum Tod Rémi Ochliks und der versuchten Tötung Edith Bouviers bei demselben Angriff auf; die Ermittlungen sind bislang jedoch kaum vorangekommen. ROG hat die US-Klageschrift der Colvins nun auch dem zuständigen Ermittlungsrichter in Frankreich übergeben.
Seit 2011 rund 200 Medienschaffende getötet
Syrien ist derzeit das gefährlichste Land der Welt für Journalisten: Seit dem Beginn des Aufstands gegen das Regime von Baschar al-Assad im Frühjahr 2011 sind dort rund 200 Medienschaffende wegen ihrer journalistischen Arbeit getötet worden, die meisten von ihnen syrische Bürgerjournalisten. Zuletzt wurde vergangenen Montag der Al-Dschasira-Reporter Ibrahim al-Omar getötet, als er über einen russischen Luftangriff auf Tarmanin nahe der Stadt Idlib berichtete. Derzeit sind in Syrien mindestens 29 Medienschaffende im Gefängnis; weitere 29 – darunter sieben Ausländer – sind entführt oder gelten als vermisst. Auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht das Land auf Platz 177 von 180 Ländern.
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