Syrien
28.01.2022
Zweite Gruppe gefährdeter Journalisten gerettet
Reporter ohne Grenzen (RSF) hat gemeinsam mit dem Syrian Center for Media and Freedom of Expression (SCM) erneut eine Gruppe von bedrohten syrischen Journalistinnen und Journalisten dabei unterstützt, das krisengeschüttelte Land zu verlassen. In über zweijährigen Bemühungen gelang es den beiden Organisationen, insgesamt elf Medienschaffende mit ihren Familien aus der Region Idlib nach Deutschland zu bringen. Idlib ist eine der wenigen Regionen des Landes, die das syrische Regime noch nicht wieder unter seine Kontrolle bringen konnte. Dementsprechend hoch war die Bedrohungslage: Weil die Journalistinnen und Journalisten für ausländische oder oppositionelle Medien arbeiteten, hätte ihnen in den Händen des Assad-Regimes lange Haft in den für Folter und Tod berüchtigten syrischen Gefängnissen gedroht. Nach der Evakuierung von zwölf Personen und ihren Familien aus dem südlichen Daraa in den Jahren 2018 und 2019 ist die Idlib-Mission bereits die zweite erfolgreiche Rettungsaktion für syrische Medienschaffende. Bereits damals hatten RSF und SCM zusammengearbeitet.
„Wir sind sehr glücklich, dass nun auch der letzte Journalist aus der Idlib-Gruppe in Deutschland angekommen ist“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Rettungsaktion hat einmal mehr gezeigt, dass höchst bedrohten Menschen unbürokratisch geholfen werden kann. Allerdings braucht es seitens der Politik noch viel häufiger den Willen und den Mut, humanitäre Notfallvisa auszustellen. Wir appellieren an die neue Bundesregierung, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst ist und sich diesem Weg nicht verschließt.“
Die aufwendige Rettungsaktion begann bereits im August 2019. Seit April hatten die syrischen Regierungstruppen und ihre Verbündeten die Rebellenhochburgen in der Provinz Idlib angegriffen. In den täglichen Bombardierungen starb neben vielen Zivilistinnen und Zivilisten auch der Fotojournalist Abdul Hamid al-Yussuf. Gleichzeitig bedrohten dschihadistische Gruppierungen wie Hajat Tahrir al-Scham in Idlib Journalistinnen und Journalisten direkt mit dem Tod.
„Ich hatte damals nicht vor, mein Land zu verlassen”, sagt die Journalistin Lama al-Saud, die für das Idlib Media Center arbeitete. „Aber die Offensive der Regierungstruppen war ein großer Schock. Die Regierung suchte nach mir, weil meine journalistische Arbeit nicht mit ihrer repressiven Politik in Einklang zu bringen war. Auch die in der Region dominierenden Milizen bekämpften uns.” Ihre Kollegin Hazza al-Hazza hat für Radio Fresh gearbeitet, einem vom Journalisten und Aktivisten Raid al-Faris gegründeten Sender in Kafr Nabl. Er wurde 2018 ermordet. „Nachdem sie ihn getötet hatten, mussten wir fliehen. Al-Qaida-Leute haben jede Reporterin und jeden Journalisten verfolgt, der oder die demokratische und säkulare Werte verteidigt hat.”
Aufwendiger Verifizierungsprozess
Die langjährige RSF-Partnerorganisation SCM hatte al-Hazza, al-Saud und mehrere andere auf eine Liste akut bedrohter Medienschaffender gesetzt. Zum aufwendigen Verifizierungsprozess gehörte unter anderem, klar zu bestimmen, dass der oder die Betroffene konkret wegen der journalistischen Arbeit bedroht war, für eine seriöse und professionell arbeitende Redaktion tätig war, sich niemals an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt und in keiner Form Hassrede etwa in den Sozialen Medien verbreitet hat.
Nach intensiven Gesprächen über mehrere Monate hinweg sagte das deutsche Auswärtige Amt im März 2020 zu, elf Journalistinnen und Journalisten sowie ihren Familien Notfallvisa auszustellen. Weil jedoch die Türkei Corona-bedingt ihre Grenzen geschlossen hielt, dauerte es noch bis Dezember 2020, bis endlich neun der bedrohten Medienschaffenden über den Grenzübergang Bab al-Hawa in die Türkei kamen. Am 6. Januar 2021 landete schließlich der Flug dieser ersten Gruppe in Deutschland.
Das SCM hielt über die Dauer des gesamten Prozesses den Kontakt und stellten über einen Mittelsmann sicher, dass die Journalistinnen und Journalisten wohlbehalten von der syrisch-türkischen Grenze nach Ankara kamen. Dieser Mittelsmann sorgte zudem für Botschaftstermine, medizinische Behandlungen und Unterkünfte sowie anschließend für den notwendigen Covid-19-Test, den Transport nach und die erste Unterkunft in Istanbul sowie den Flug nach Deutschland. RSF übernahm den weit überwiegenden Anteil der Kosten und koordinierte die einzelnen Evakuierungen. Die aufwendige und sehr kleinteilige Umsetzung der anfallenden Aufgaben vor Ort lag beim SCM. Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) unterstützte ebenfalls finanziell.
Die beiden verbliebenen Journalisten überquerten die syrisch-türkische Grenze erst Monate nach der ersten Gruppe, am 14. September 2021. Nach der Quarantäne in der Türkei sind sie seit Anfang November mit ihren Familien in Deutschland. RSF begleitet die elf Journalistinnen und Journalisten sowie ihre Familien nun bei ihrer Ankunft in Deutschland und ihrem weiteren Weg.
Situation für Medienschaffende bleibt extrem gefährlich
Während die Idlib-Gruppe in Sicherheit ist, bleibt die Lage für Journalistinnen und Reporter in allen Teilen Syriens extrem gefährlich. Am bedrohlichsten ist die Situation noch immer in den wenigen Regionen, die das Assad-Regime noch nicht zurückerobert hat. Hier ist zu befürchten, dass unabhängige Medienschaffende als Kriegsparteien betrachtet und zwischen den Fronten zerrieben werden könnten. Zudem geraten Journalistinnen und Reporter immer wieder auch direkt unter Beschuss: Im Juli wurde der freie Fotograf Homam al-Asi in Idlib durch Artilleriefeuer getötet. Am gleichen Tag wurden drei Journalisten nahe Qamischli in Kurdistan verhaftet, und kurz zuvor wurde eine Cartoonistin nahe Aleppo angegriffen und ausgeraubt. Für viele syrische Medienschaffende ist aufgrund der vielfältigen Bedrohungen die Hoffnung auf zukünftige Evakuierungen oft die einzige Perspektive.
Attacken auf Reporterinnen und Journalisten bleiben in Syrien fast immer straffrei. Seit Präsident Baschar al-Assad im Frühling 2011 den zunächst gewaltfreien Protest auf brutalste Weise hat niederschlagen lassen, sind viele Medienschaffende ums Leben gekommen, in den Gefängnissen des Regimes teils unter Folter gestorben oder bis heute verschwunden. Im seit Jahren anhaltenden Bürgerkrieg waren und sind Journalistinnen und Journalisten Einschüchterung und Gewalt von allen Parteien ausgesetzt - vom syrischen Militär und seinen Verbündeten ebenso wie seitens der verschiedenen bewaffneten Oppositionsgruppen, darunter von der Türkei unterstützte Kräfte, kurdische Verbände und radikal-islamistische Gruppen.
In ihrem umfangreichen Report „Syria: The Black Hole for Media Work” hat das SCM detailliert aufgelistet, welche Akteure für bestimmte Verletzungen der Medienfreiheit verantwortlich waren. In den untersuchten zehn Jahren des Konflikts - vom Frühjahr 2011 bis Ende 2020 - hat das SCM 720 Fälle von außergerichtlichen Tötungen, 434 Fälle von willkürlichen Verhaftungen und 140 Entführungen gezählt. Für die meisten Verletzungen (795) ist das syrische Regime verantwortlich. In 171 Fällen waren die Täter den bewaffneten oppositionellen Kräften zuzurechnen, 164 Fälle gehen auf den sogenannten Islamischen Staat zurück, der bis 2014 unter dem Akronym ISIS bekannt wurde.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Syrien auf Platz 173 von 180 Ländern.
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