International
30.10.2020
Journalisten schützen, Straflosigkeit bekämpfen
Reporter ohne Grenzen (RSF) ist besorgt über die fragliche Zukunft der staatlichen Schutzmaßnahmen für Medienschaffende in Mexiko. Infolge der Corona-Pandemie hat die mexikanische Regierung neben vielen anderen Budgetkürzungen auch den Treuhandfonds gestrichen, der den sogenannten Föderalen Mechanismus zum Schutz von Journalisten und Menschenrechtsverteidigerinnen finanziert. Anlässlich des Welttags gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten am Montag (2.11.) weist RSF darauf hin, dass eine ungesicherte Finanzierung des nationalen Schutzmechanismus viele Journalistinnen und Journalisten noch mehr gefährden könnte, als es ohnehin schon der Fall ist. In Mexiko werden so viele Medienschaffende gezielt ermordet wie in keinem anderen Land der Welt; so gut wie nie werden die Fälle komplett aufgeklärt. Zugleich appelliert RSF an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, sich wie bei seinem Amtsantritt versprochen für den Schutz von Medienschaffenden vor Gewalt einzusetzen.
„Die mexikanische Regierung muss umgehend erklären, wie die alternative Finanzierung des Mechanismus aussehen soll“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Es ist unbegreiflich, dass in einem der gefährlichsten Länder der Welt für Medienschaffende an ihrem Schutz gespart wird und so Leben gefährdet werden. Die mexikanischen Behörden dürfen keine Zeit verlieren, um ein neues, transparentes System zu schaffen, das gesicherte, langfristige Schutzmaßnahmen ermöglicht.“
Mihr weiter: „Das jüngste Beispiel aus Mexiko zeigt, dass die internationale Gemeinschaft ihre Mitgliedstaaten in die Pflicht nehmen und aktiv daran mitwirken muss, dass Medienschaffende effektiv geschützt werden. Ein hauptamtlicher Sonderbeauftragter oder eine hauptamtliche Sonderbeauftragte für den Schutz von Journalistinnen und Journalisten würde endlich alle bestehenden Mechanismen, Resolutionen und Empfehlungen von UN-Gremien zusammenzuführen und eine echte Rechenschaftspflicht der Mitgliedstaaten für Verbrechen gegen Medienschaffende durchsetzen. Wir fordern UN-Generalsekretär Guterres deshalb auf, sich aktiv um die Einsetzung eines oder einer solchen Sonderbeauftragten zu bemühen.“
Große Sorge über Zukunft des Schutzes für mexikanische Medienschaffende
Als Teil einer Reihe großer Budgetkürzungen infolge der Corona-Pandemie hat die mexikanische Regierung beschlossen, 109 sogenannte Fideicomisos zu streichen – halb-unabhängige staatliche Treuhandfonds, die gemeinnützige Aktivitäten vom Independent-Kino bis hin zum Sport finanzieren. Ein entsprechendes Gesetz wurde am 8. Oktober von der Abgeordnetenkammer und 12 Tage später vom Senat final verabschiedet. Betroffen ist auch der Föderale Mechanismus zum Schutz von Journalistinnen und Menschenrechtsverteidigern, der 2012 geschaffen wurde und dem Innenministerium angegliedert ist. Die Entscheidung wurde trotz unzähliger Warnungen aus der Zivilgesellschaft getroffen. Auch RSF hatte der Abgeordnetenkammer am 8. Juni von dem Schritt abgeraten.
Es besteht nun erhebliche Sorge über die Zukunft des Föderalen Mechanismus. In einer Erklärung vom 28. September warnte die Leitung des Föderalen Mechanismus davor, dass Sofortmaßnahmen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten weniger flexibel umgesetzt werden können, wenn der Treuhandfonds abgeschafft wird. In den vergangenen Wochen haben viele unter dem Schutz des Mechanismus stehende Personen RSF mitgeteilt, dass sie angesichts der völligen Ungewissheit über ihre Zukunft in großer Sorge seien. Darunter waren etwa Familien von Medienschaffenden, die aus besonders gefährlichen Regionen des Landes nach Mexiko-Stadt geflüchtet sind.
Die Abschaffung des Treuhandfonds wird es unweigerlich für Medienschaffende schwieriger machen, Schutz zu beantragen und zu erhalten. Die zusätzlichen bürokratischen Hürden könnten die Sicherheit und das Leben der Antragstellenden gefährden. Auch könnten sie zu weniger Transparenz über die Verwendung der Mittel des Mechanismus führen. Unter dem Schutz des Mechanismus stehen aktuell 1.304 Personen, davon 418 Medienschaffende (111 Frauen und 307 Männer) und 886 Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger (471 Frauen und 415 Männer).
Mexikos Regierung versprach Besserung, aber nichts geschah
Bei einem Besuch einer internationalen Menschenrechtskoalition, der auch RSF angehörte, im November 2019 verpflichtete sich Mexikos Unterstaatssekretär für Menschenrechte im Innenministerium, Alejandro Encinas, zur schrittweisen Umsetzung der 104 Empfehlungen zur Verbesserung des Mechanismus, die das Mexiko-Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte im Juli 2019 abgegeben hatte. Dazu gehörte etwa, dass der Staat die personellen und materiellen Ressourcen des Mechanismus garantieren und auf ein Niveau anheben müsse, das für ein wirksames Funktionieren des Mechanismus erforderlich ist. Auf diese Zusage folgte allerdings nie eine konkrete Entscheidung.
Allein seit dem Amtsantritt von Präsident Andrés Manuel López Obrador am 1. Dezember 2018 sind mindestens 15 Journalistinnen und Journalisten in Mexiko in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit ermordet worden. 2020 wurden bislang fünf Medienschaffende in Mexiko ermordet – mehr waren es nur im Irak, wo sechs Journalisten getötet wurden. Weit mehr als 90 Prozent der Morde an Medienschaffenden in Mexiko bleiben straflos.
RSF-Projekt kämpft gegen Straflosigkeit in Mexiko
Der Kampf gegen Straflosigkeit ist ein Kernanliegen von Reporter ohne Grenzen. Aus diesem Grund setzt die deutsche Sektion von RSF bis 2022 ein Programm für die Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten in Mexiko und Brasilien um, in Zusammenarbeit mit der mexikanischen Menschenrechts-NGO Propuesta Cívica und dem RSF-Büro in Rio de Janeiro. Das Defending Voices Program for the Safety of Journalists zielt darauf ab, in beiden Ländern sichere Arbeitsumfelder zu schaffen und die Straflosigkeit für Verbrechen gegen Medienschaffende zu bekämpfen.
Die Unfähigkeit und der mangelnde Wille, Kriminelle für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen, ist in Mexiko ein weit verbreitetes Phänomen, aber bei Verbrechen gegen Journalistinnen und Journalisten besonders ausgeprägt. Aus diesem Grund will das Mexiko-Projekt von Defending Voices dazu beitragen, Praktiken und Gesetze, die der Pressefreiheit schaden, zu überarbeiten und Medienschaffenden, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind, ebenso wie ihren Familien den Zugang zu juristischer Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu erleichtern.
Im Rahmen des Projekts erhalten die Familien mehrerer verschwundener und ermordeter Medienschaffender Rechtsbeistand: Mauricio Estrada Zamora (seit 2008 verschwunden), Ramón Ángeles Zalpa (seit 2010 verschwunden), Miroslava Breach (2017 ermordet) und Javier Valdez (2017 ermordet) sowie die in Nuevo Laredo im Bundesstaat Tamaulipas ansässige Tageszeitung El Mañana, die mehrfach mit Schusswaffen und Handgranaten angegriffen wurde und deren Redaktionsleiter 2004 ermordet wurde. Bisher ist keines dieser Verbrechen vollständig aufgeklärt worden.
UN-Generalsekretär muss Sonderbeauftragten einsetzen
Mit dem 2013 eingeführten Welttag gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalistinnen und Journalisten machen die Vereinten Nationen jedes Jahr am 2. November darauf aufmerksam, dass auch in vielen anderen Ländern Medienschaffende ermordet, gefoltert oder entführt werden, ohne dass die Schuldigen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres hatte kurz nach seinem Amtsantritt 2017 zugesagt, sich für mehr Sicherheit für Medienschaffende einzusetzen. Tatsächlich leitete er auch erste Schritte ein, damit das UN-System schneller auf akute Bedrohungen gegen Journalistinnen und Journalisten reagieren kann. Doch gut ein Jahr vor dem Ende von Guterres‘ erster Amtszeit lässt die Einsetzung eines oder einer Sonderbeauftragten weiter auf sich warten. Der deutsche Bundestag war im Jahr 2016 das erste Parlament weltweit, das sich hinter die RSF-Forderung nach einem oder einer UN-Sonderbeauftragten stellte. Mit einem Entschließungsantrag forderte der Bundestag damals die Bundesregierung auf, „eine UN-Initiative zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten und gegen Straflosigkeit zu unterstützen und die Einsetzung eines Sonderbeauftragten voranzubringen“.
Der oder die von RSF vorgeschlagene Sonderbeauftragte sollte direkt dem UN-Generalsekretär unterstehen und eigenständigen Untersuchungen einleiten können, wenn Staaten nach Gewalttaten gegen Medienschaffende untätig bleiben. RSF hat schon vor Jahren konkrete Vorschläge vorgelegt, wie ein solches Mandat ausgestaltet werden sollte, um wirksam gegen die Untätigkeit vieler Regierungen im Kampf gegen Straflosigkeit vorzugehen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Mexiko auf Platz 143 von 180 Staaten.
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