Brasilien 01.11.2017

Medien-Oligopole im Griff der “Colonels”

© Media Ownership Monitor

Brasiliens einflussreiche Dynastien von Großgrundbesitzern haben ihre Macht längst auch auf die Medien ausgeweitet. Damit kontrollieren die sogenannten Colonels nicht nur weite Teile von Wirtschaft und Politik, sondern üben auch maßgeblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Weder der Aufstieg des Internets und anderer digitaler Technologien noch sporadische Versuche einer staatlichen Regulierung konnten die so entstandenen Medien-Oligopole bislang ernsthaft gefährden. Das zeigen die Ergebnisse viermonatiger Recherchen im Rahmen des weltweiten Projekts Media Ownership Monitor, die Reporter ohne Grenzen (ROG) und die brasilianische Nichtregierungsorganisation Intervozes am Dienstagabend in São Paulo vorgestellt haben. Die Ergebnisse sind ab sofort auf Portugiesisch und Englisch für die Öffentlichkeit zugänglich.

Gemessen an einer Reihe standardisierter Indikatoren wie Eigentümerkonzentration über Mediengattungen hinweg, Reichweitenkonzentration und politischem Einfluss schneidet Brasilien am schlechtesten unter den bislang elf MOM-Projektländern ab: Mit einer Ausnahme zeigen in Brasilien alle Indikatoren die Farbe Rot für die schlechteste Einstufung. Das heißt, die Gefahren für den Medienpluralismus sind dort außerordentlich hoch.

Zu den Besonderheiten in Brasilien gehört eine starke geografische Konzentration von Medieneigentümern im Großraum São Paulo. Insgesamt untersuchte das MOM-Team die 50 wichtigsten Medien Brasiliens und die 26 dahinterstehenden Unternehmensgruppen. Drei Viertel von ihnen haben ihre Sitze in der südbrasilianischen Metropole.

Mehr als 70 Prozent des landesweiten Fernsehpublikums sind auf die vier großen Senderketten Globo, SBT, Record und Band konzentriert, mehr als die Hälfte davon allein auf den führenden Sender TV Globo. Da es mit Ausnahme des Bezahlfernsehens keine gesetzliche Begrenzung der Medienkonzentration gibt, dominieren die Marktführer auch in anderen Mediengattungen und kontrollieren wichtige Radiosender, Internetportale, Printmagazine und Zeitungen.

„Im Prinzip weiß jeder hier, worin das Problem besteht. Aber jetzt können wir die Namen und Besitzanteile und das Zusammenspiel der Mächtigen auf allen Ebenen sehr genau aufzeigen“, sagte Intervozes-Recherchechef André Pasti. „Die Medien sind keine Wirtschaftsbranche wie jede andere – es kommt sehr wohl darauf an, wer sie kontrolliert“, ergänzte MOM-Projektleiter Olaf Steenfadt. „Die Bürger haben ein Anrecht zu wissen, welche Interessen hinter den Medien stehen, aus denen sie sich informieren. Der Media Ownership Monitor gibt ihnen dazu jetzt das Werkzeug an die Hand.“

Politikerfamilien investieren ins Mediengeschäft 

Obwohl die brasilianische Verfassung dies verbietet, haben 32 Parlamentsabgeordnete und acht Senatoren Medienbesitz, selbst wenn sie nicht immer als formale Eigentümer in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist der langjährige Abgeordnete und derzeitige Bürgermeister der Stadt Betim im Bundesstaat Minas Gerais, Vittorio Medioli. Seine Mediengruppe Grupo Editorial Sempre Editora wird von seiner Ehefrau und seiner Tochter geführt und gibt zwei der auflagenstärksten Zeitungen Brasiliens (Super Notícias und O Tempo) heraus. Auch drei weitere Zeitungen, ein Online-Portal, ein Online-Fernsehsender und ein Radiosender gehören zu der Gruppe.

Auch Vertreter anderer im Mediengeschäft aktiver Unternehmerdynastien wie der Familien Câmara, Faria und Mesquita bekleiden politische Ämter. Die Macedo-Familie etwa kontrolliert die Mediengruppe Record sowie die evangelikale Freikirche Igreja Universal do Reino de Deus. Zugleich dominiert sie eine wichtige politische Partei, den Partido Republicano Brasileiro (PRB); diese stellt derzeit einen Minister der Bundesregierung, einen Senator, 24 Parlamentsabgeordnete, 37 Abgeordnete auf Bundesstaatsebene, 106 Bürgermeister und 1619 Mitglieder von Stadt- und Gemeinderäten.

Meist werden die Massenmedien in Brasilien jedoch auf andere Weise politisch vernetzt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Lizenzierungssystem der landesweiten Fernseh- und Radiosender: Diese vergeben Lizenzen für die Nutzung ihrer Marke und ihrer Inhalte an Unternehmen in den Bundesstaaten, an denen oft die dortigen Lokalmatadoren beteiligt sind. In mehreren Bundesstaaten kontrollieren auf diese Weise Politiker oder traditionell in die Politik involvierte Familien die Ableger der großen Sender; in der Regel sind sie zugleich in anderen Mediengattungen aktiv.

Ein Beispiel für dieses Muster der politischen Einflussnahme ist die Mediengruppe Rede Bahia im gleichnamigen Bundesstaat, die von der Familie Magalhães kontrolliert wird. Ihr gehören der örtliche Globo-Partner TV Bahia und die Zeitung Correio da Bahia; zugleich entstammen der Familie der aktuelle Bürgermeister von Salvador, Antônio Carlos Magalhães Neto, sowie der inzwischen verstorbene ehemalige Gouverneur, Senator und Minister Antônio Carlos Magalhães.

Ein ähnlicher Fall ist die Unternehmensgruppe Arnon de Mello des früheren Staatspräsidenten und jetzigen Senators Fernando Collor de Mello: Ihr gehören der Fernsehsender und Globo-Partner Gazeta Alagoas TV, die Zeitung Gazeta de Alagoas und der Radiosender Gazeta 94 FM. Oder Rede Massa, der örtliche Partner des nationalen Fersensenders SBT im Bundesstaat Paraná, der dem Moderator Carlos Massa gehört, dessen Sohn Ratinho Filho Abgeordneter im Staats- und im Bundesparlament war. Ähnlich auch Grupo RBA de Comunicação im Bundestaat Pará, eine Unternehmensgruppe des Senators Jader Barbalho und seiner Familie, der die Zeitung Diário do Pará und der Fernsehsender und Globo-Partner TV Tapajós gehören.

Mediengruppen aus São Paulo dominieren

Allein neun der 50 wichtigsten Medien Brasiliens gehören der Globo-Gruppe, jeweils fünf der Bandeirantes-Gruppe sowie dem Unternehmer und Bischof Edir Macedo (einschließlich seiner Firmengruppe Record und der Medien seiner Kirche Igreja Universal do Reino Deus), vier der RBS-Gruppe, drei der Folha-Gruppe und je zwei den Firmengruppen Estado, Abril und Editorial Sempre Editore/SADA.

Die überwiegende Mehrheit (73 Prozent) dieser Unternehmensgruppen haben ihre Firmensitze im Großraum São Paulo, insgesamt 80 Prozent sitzen im Süden und Südosten Brasiliens. Durch die Lizenzierung an Partner in den Bundesstaaten, die einen Großteil der Inhalte des jeweiligen Muttersenders übernehmen, pflanzt sich diese strukturelle Dominanz bis in die Regionen fort.

Starke Reichweitenkonzentration auch bei Print- und Onlinemedien

Besonders auffällig ist die Reichweitenkonzentration beim Fernsehen, der nach wie vor meistkonsumierten Medienart in Brasilien. Die vier großen Senderketten teilen hier mehr als 70 Prozent des nationalen Publikums unter sich auf; 37 Prozent entfallen allein auf TV Globo, je knapp 15 Prozent auf die Zweit- und Drittplazierten SBT und Record. Eine erhebliche Reichweitenkonzentration ist auch bei Print- und Onlinemedien zu beobachten, wo die größten vier Mediengruppen jeweils mehr als 50 Prozent des Publikums auf sich vereinen.

Weniger ausgeprägt ist die Reichweitenkonzentration auf dem Radiomarkt, der stärker regional geprägt ist. Allerdings sind auch die Radiosender im Lizenzsystem organisiert, so dass viele Sender einen Großteil ihres Programms von den landesweiten Muttersendern übernehmen. Allein drei der großen Radio-Senderketten gehören zur Bandeirantes-Gruppe und zwei zur Globo-Gruppe.

Schwache Regulierung ermöglicht Multi-Media-Imperien

Es gibt in Brasilien keine staatliche Regulierung, die der gattungsübergreifenden Konzentration von Fernseh- und Radiosendern, Print- und Onlinemedien in einer Hand entgegenwirken würde. Ganz im Gegenteil: Das Mediensystem des Landes scheint gerade auf dem gattungsübergreifenden Medienbesitz zu gründen, was die Eigentumskonzentration in den Händen weniger Unternehmensgruppen verstärkt. Dies gilt auf nationaler wie auf Bundesstaats- und lokaler Ebene.

Die Globo-Gruppe etwa spielt eine wichtige Rolle im Free-TV-Markt wie auch beim Kabelfernsehen, auf dem Onlinemedien- und dem Radiomarkt. Ihr Globo-Netzwerk ist der Marktführer beim Free TV, Inhalte ihrer Tochter GloboSat sind im Kabelfernsehen (einschließlich GloboNews und Dutzenden weiterer Sender) sehr präsent. Globo.sat ist das größte Online-Nachrichtenportal, und die zur Gruppe gehörenden Radio-Senderketten Globo AM/FM und CBN gehören zu den zehn reichweitenstärksten des Landes.

Das gleiche gilt für andere Medienkonzerne: Die Record-Gruppe betreibt im Free-TV-Segment RecordTV und RecordNews; ihre Zeitung Correio do Povo und das Online-Portal R7 gehören zu den größten im Land. Die RBS-Gruppe wiederum ist im Bundesstaat Rio Grande do Sul im Free-TV-Geschäft tätig und gibt die auflagenstarken Zeitungen Zero Hora und Gaúcho Diary heraus. Zugleich betreibt sie zwei Radio-Senderketten (die landesweite Gaúcha Sat und die regionale Atlântida) sowie das Onlineportal ClicRBS und ist an vielen weiteren Print- und Digitalmedien beteiligt.

Das einzige Gesetz, das den gattungsübergreifenden Medienbesitz reguliert, ist das über den Bezahlfernsehmarkt (Law 12.485/2011). Es verbietet die gegenseitige Kontrolle einerseits von Unternehmen, die audiovisuelle Inhalte herstellen, sowie andererseits Plattformbetreibern und Telekommunikationsfirmen.

Verschränkung von Medienbesitz, Industrie und Finanzwirtschaft - und Kirchen

Die meisten der Unternehmensgruppen, denen die führenden Medien Brasiliens gehören, sind zugleich in anderen Wirtschaftsbranchen aktiv. So betreiben Medienbesitzer zugleich Stiftungen oder Unternehmen im Bildungssektor, sind in der Finanz-, Agrar-, Immobilienwirtschaft, der Energie- und der Gesundheitsbranche tätig. Ein Beispiel ist die Firmengruppe SADA/Editora Sempre der Medioli-Familie. Diese hat auch Investitionen im Transport- und Logistikgeschäft, in der Stahl- und der Energieindustrie, in Sport- und Bildungsanbietern.

Auch zwischen Kirchen und landesweiten Radio- und Fernsehsendern gibt es Geschäftsverbindungen. Ein wichtiges Beispiel ist die Record-Gruppe mit ihren Verbindungen zur Freikirche Igreja Universal do Reino de Deus und zum Radionetzwerk Rede Aleluia. Der Record-Mehrheitseigentümer Edir Macedo kontrolliert außerdem 49 Prozent des Kapitals des Geldinstituts Banco Renner.

Keine Transparenz über Besitzverhältnisse

Die im Rahmen des Projekts MOM Brasilien untersuchten Medienunternehmen veröffentlichen von sich aus keine Informationen über ihre Besitzverhältnisse, und kein einziges hat auf entsprechende Anfragen des MOM-Teams Auskunft gegeben. Einige verwiesen zur Begründung auf „strategische“ oder Wettbewerbsgründe.

Auf anderen Wegen lässt sich nur mühsam und in begrenztem Umfang an diese Daten gelangen. Es gibt keine rechtliche Handhabe, um ihre Offenlegung zu erzwingen. Selbst das Meldesystem der nationalen Telekommunikationsbehörde, bei der Radio- und Fernsehsender Informationen zu ihren Eigentumsverhältnissen angeben müssen, garantiert weder Aktualität noch ausreichend detaillierte Angaben, um die Eigentümer im Einzelnen zu identifizieren. Verschachtelte Unternehmensstrukturen mit einer Vielzahl von Einzelfirmen erschweren den Durchblick zusätzlich.

Brasilien steht auf Platz 103 von 180 Staaten auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit

Über den Media Ownership Monitor 

Der Media Ownership Monitor ist ein internationales Projekt von Reporter ohne Grenzen, das mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung umgesetzt wird. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen wurde er erstmals 2015 in Kolumbien und Kambodscha durchgeführt. MOM-Ergebnisse liegen außerdem bereits aus Tunesien, der Türkei, der Ukraine, Peru, den Philippinen, der Mongolei, Serbien und Ghana vor. Derzeit recherchiert ein MOM-Team in Marokko, die nächsten Projektländer sind Mexiko und Albanien.



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