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Rangliste der Pressefreiheit — Platz 47 von 180
Deutschland/EU 18.06.2020

Als EU-Ratspräsident Pressefreiheit stärken

© picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Deutschland muss seine bevorstehende EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um sich auf europäischer Ebene für einen besseren Schutz von Journalistinnen und Journalisten einzusetzen, gegen erodierende Rechtsstaatlichkeit vorzugehen und starke Exportkontrollen für digitale Überwachungstechnologie zu erreichen. Dazu fordert Reporter ohne Grenzen (RSF) die Bundesregierung anlässlich ihrer Übernahme der rotierenden halbjährigen Ratspräsidentschaft am 1. Juli auf. Im Zuge der Corona-Konjunkturmaßnahmen sollte die EU sich auch für eine nachhaltige Förderung und Finanzierung von Medienunternehmen einsetzen. Im Verhältnis zu China sollte Deutschland in Anbetracht des zunehmend repressiven chinesischen Vorgehens gegen Medienschaffende in China, Hongkong und Taiwan eine gemeinsame und konsistente Haltung der EU organisieren und sich öffentlich an die Seite der Betroffenen stellen.

„Was Deutschland als Schwergewicht in der Europäischen Union zur Verteidigung der Pressefreiheit unternimmt, hat Signalwirkung in aller Welt“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Als Ratspräsident sollte sich Deutschland entschieden dafür einsetzen, dass auch EU-Staaten wie Polen und Ungarn demokratische Standards einhalten. Von autoritären Staaten wie China und Russland muss die EU unter deutscher Präsidentschaft entschieden Presse- und Informationsfreiheit einfordern.“ 

Notfallfonds und mehrjähriger Finanzrahmen für gesunde Medienwirtschaft

Vor dem Hintergrund der Corona-Krise fordert RSF die Bundesregierung auf, sich im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft kurzfristig die Einrichtung eines Notfallfonds für gefährdete europäische Medien. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie groß das öffentliche Interesse an zuverlässigen Informationen und unabhängigen Medien ist. Gleichzeitig ist durch den Konjunktureinbruch das Anzeigengeschäft und damit eine der wichtigsten Einnahmequellen von Medienunternehmen drastisch zurückgegangen. Medienvielfalt und -unabhängigkeit sind dadurch akut bedroht, insbesondere in Ländern wie Ungarn und Polen. Die Mittel aus dem zu schaffenden Notfallfonds sollten den betroffenen Medien direkt, unabhängig und unparteiisch in einem transparenten Verfahren zugewiesen werden.

Mit Blick auf die mittelfristige Haushaltsplanung der Europäischen Union unterstützt RSF den Vorschlag des EU-Parlaments, die Mittel für das „Creative Europe"-Programm, das unter anderem Medienpluralismus, Qualitätsjournalismus und Medienkompetenz fördert, fast zu verdoppeln. In den Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten über den „Mehrjährigen EU-Finanzrahmen für 2021-2027“ beim EU-Gipfel am (morgigen) Freitag sowie in den kommenden Wochen sollte sich die Bundesregierung dafür starkmachen. Die „Creative Europe“-Mittel sollten vor allem gemeinnützigen, investigativen und lokalen Medien zugutekommen. Vor der Corona-Pandemie hatte die Europäische Kommission vorgeschlagen, die Mittel für dieses Programm erheblich zu senken. Insbesondere in Anbetracht der Krise muss dieser Vorschlag dringend überarbeitet werden.

RSF begrüßt zudem die Pläne, die Vergabe von EU-Strukturfondsmitteln an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit zu koppeln. Deutschland sollte sich im Rahmen seiner EU-Präsidentschaft für eine solche, schon 2018 von der EU-Kommission vorgeschlagene Regelung einsetzen, damit sie zum 1. Januar 2021 in Kraft treten kann.

Mittel- und langfristig sind neue Ideen nötig, wie Medien finanziell nachhaltig wirtschaften können. Reporter ohne Grenzen spricht sich daher für eine europäische Forschungsfinanzierung aus, um neue Geschäftsmodelle zu identifizieren und förderliche politische Rahmenbedingungen zu diskutieren

Transparenter und starker EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus

Die Bundesregierung sollte in der deutschen Ratspräsidentschaft die seit 2018 laufenden Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn vorantreiben. Nicht erst seit dem Beginn der Corona-Pandemie – zuletzt jedoch im Rahmen der Notfallmaßnahmen unübersehbar – rütteln auch europäische Länder an den Grundpfeilern der Rechtsstaatlichkeit. Die 2018 gegen Polen und Ungarn wegen Verletzungen der EU-Grundwerte eröffneten Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge sind bislang das schärfste Mittel, um ein EU-Land unter der Androhung eines Stimmrechteentzugs dazu zu bewegen, rechtsstaatlich umstrittene Entscheidungen zurückzudrehen.

So sinnvoll sie sind, die schwerfälligen Verfahren gegen Polen und Ungarn zeigen auch die Grenzen der Artikel-7-Option auf. Daher spricht sich Reporter ohne Grenzen zusätzlich für die Einführung eines starken Europäischen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus (Rule of Law Mechanism) aus. Belgien und Deutschland haben vor gut einem Jahr vorgeschlagen, dass sich künftig alle EU-Staaten freiwillig in einem jährlichen Peer-Review-Verfahren einer Bewertung unterziehen und damit gegenseitig überprüfen. So sollen mögliche Probleme frühzeitig erkannt und politisch heikle Sanktionsverfahren wie die gegen Ungarn und Polen vermieden werden.

Reporter ohne Grenzen begrüßt diese Idee und empfiehlt, solche Berichte in einem transparenten Verfahren unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft zu erstellen. Sollten länderspezifische Empfehlungen missachtet werden, müssen bei schwerwiegenden und systematischen Verstößen Sanktionen möglich sein. Den vielfältigen Herausforderungen an Medienfreiheit und -pluralismus sollte in dem Bericht ein gesondertes Kapitel zukommen. Auch Beeinträchtigungen der Pressefreiheit durch die aktuellen Corona-Maßnahmen sollten darin zwingend diskutiert werden. 

Schutz vor Knebelklagen durch Anti-SLAPP-Richtlinie

RSF fordert die Bundesregierung auf, während der deutschen Ratspräsidentschaft eine EU-Richtlinie anzuregen, um Journalistinnen und Journalisten vor „Knebelklagen“ zu schützen, den sogenannten SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation – strategische Klagen gegen die Beteiligung der Öffentlichkeit). Solche Zivilklagen sind zunehmend auch in EU-Ländern ein politisches Kampfmittel der Mächtigen, um kritische Stimmen mundtot zu machen.

Den Klägerinnen und Klägern – oft einflussreiche Geschäftsleute, Politikerinnen und Politiker – geht es dabei nicht in erster Linie darum, tatsächliche Rechtsansprüche durchzusetzen. Denn meist werden die Klagen mangels Grundlage abgewiesen. Doch jeder Rechtsstreit bringt für die Gegenseite einen hohen Kosten- und Zeitaufwand mit sich. Die verklagten Journalistinnen und Aktivisten werden dadurch systematisch von ihrer Arbeit abgehalten und zermürbt.

Zu den jüngsten Beispielen für SLAPPs gehört die Klage eines Miteigentümers der maltesischen Satabank gegen den Blogger Manuel Delia, der über die Geldwäscheaktivitäten der Bank berichtete.  Ein weiteres Beispiel ist die Klage der polnischen Regierungspartei PiS und des staatlichen Rundfunksender TVP gegen den Juristen Wojciech Sadurski, nachdem er beide per Twitter kritisiert hatte.  Als die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia ermordet wurde, waren 47 SLAPPs gegen sie anhängig.

Eine Anti-SLAPP-Richtlinie sollte einen EU-weiten Schutzstandard schaffen. Dazu muss sie SLAPPs definieren, eine frühzeitige Zurückweisung solcher Klagen ermöglichen und Missbrauch unter Strafe stellen. Gleichzeitig sollten Strukturen geschaffen und Mittel bereitgestellt werden, um Opfer von SLAPP-Klagen beispielsweise auch finanziell bei ihrer juristischen Verteidigung zu unterstützen. 

Überfällige Reform des Überwachungstechnologie-Exportregimes

Reporter ohne Grenzen appelliert an die Bundesregierung sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für die zügige Verabschiedung einer reformierten Dual-Use-Verordnung einzusetzen, die menschenrechtliche Prinzipien achtet und journalistische Arbeit schützt. Eine menschenrechtliche Folgenabschätzung im Rahmen der Due-Diligence-Prozesse von Unternehmen muss zur Pflicht werden, genauso wie Transparenz- und Offenlegungskriterien für Exportlizenzen in den Mitgliedsländern, um bei Missbrauchsrisiken durchgreifen zu können.

Hintergrund sind die seit 2016 laufenden Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem Parlament und den EU-Staaten über eine Reform der Dual-Use-Verordnung. Diese Verordnung regelt den Verkauf und Export von Gütern, die sowohl zivile als auch militärische Nutzungen haben, worunter auch digitale Überwachungstechnologie wie Spähsoftware oder Ausrüstung für die Überwachung von Demonstrationen fällt. Solange die Reform nicht in Kraft tritt, können europäische Unternehmen weiterhin rechtliche Schlupflöcher nutzen und Überwachungstechnologie an autoritäre Regime verkaufen, die sie häufig gegen Journalistinnen und Journalisten einsetzen. 

Doch eine rasche Einigung ist nicht in Sicht, weil mehrere Länder sich einer weitreichenden Reform widersetzen – darunter auch Deutschland. Der ursprünglich fortschrittliche Entwurf der EU-Kommission ist nach jahrelangen Verhandlungen verwässert, ein kürzlich bekanntgewordener Kompromissvorschlag ein enttäuschender Rückschritt.

Klare Haltung zu Menschenrechten in EU-China-Beziehungen

Die EU muss sich während der deutschen Ratspräsidentschaft klar zu den jüngsten Geschehnissen in Hongkong und China äußern und der chinesischen Regierung Konsequenzen aufzeigen. Die EU darf nicht zulassen, dass der völkerrechtlich vereinbarte Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ und damit der Sonderstatus Hongkongs durch das kürzlich verabschiedete chinesische Sicherheitsgesetz gefährdet wird. Die Verschiebung des für September in Leipzig geplanten EU-China-Gipfels darf nicht zu Untätigkeit bei diesem Thema führen. Die europäischen Regierungschefs und -chefinnen hatten vor, bei dem Gipfel unter anderem ein Investitionsschutzabkommen mit China abzuschließen.

Die zunehmende Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten hat in der Sonderverwaltungszone Hongkong bereits zum freien Fall in der Rangliste der Pressefreiheit geführt. Die Regierungen der EU-Länder sollten rechtliche Schritte gegen Chinas gezielte Verstöße gegen internationale Menschenrechtsstandards und internationale sowie bilaterale Verträge prüfen.

Zudem sollte Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft die Debatte um einen globalen Menschenrechts-Sanktionsmechanismus der EU vorantreiben, um künftig weltweit auf Menschenrechtsverletzungen reagieren zu können. Chinesische Politiker und Beamtinnen, die für das harte Vorgehen gegen Hongkong und seine Bevölkerung verantwortlich sind, sollten gezielt mit Sanktionen belegt werden, indem beispielsweise ihre Vermögenswerte eingefroren werden. Gleichzeitig sollten EU-Vertreterinnen und -Vertreter den Dialog mit Aktivistinnen und Journalisten aus China und Hongkong suchen und öffentlich Solidarität zeigen.



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