Polen
26.10.2016
EU muss klare Botschaft an Warschau senden
Einen Tag vor dem Ende des Ultimatums der EU-Kommission an Warschau fordert Reporter ohne Grenzen (ROG) die Staatengemeinschaft auf, der Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaats in Polen klar entgegenzutreten und Sanktionen nicht auszuschließen. Die konservative PiS-Regierung hatte nach ihrem Amtsantritt das Verfassungsgericht entmachtet und den öffentlichen Rundfunk unter ihre Kontrolle gebracht. Fast 200 Journalisten verloren ihre Stelle. Ein neues Aufsichtsgremium kontrolliert Radio und Fernsehen, mehrere Gesetze schränken die Pressefreiheit empfindlich ein.
„Die Maßnahmen der national-konservativen Regierung verstoßen in eklatanter Weise gegen die Grundsätze demokratischer und pluralistischer Staaten, denen sich Polen mit dem Beitritt zur EU verpflichtet hat“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Unabhängige und vielfältige Massenmedien sind für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Sollte die PiS-Regierung ihren Kurs nicht korrigieren, muss die EU über Sanktionen wie etwa eine Kürzung der Fördergelder für Polen nachdenken.“
Nationaler Medienrat bestätigt konservativen Fernsehchef
Der Nationale Medienrat, ein neues Aufsichtsgremium für die Kontrolle des öffentlichen Rundfunks, bestätigte am 12. Oktober den umstrittenen Fernsehchef Jacek Kurski im Amt. Der konservative Politiker wurde landesweit bekannt, als er Lech Kaczynski mit einer Schmutzkampagne gegen dessen Herausforderer zum Sieg bei der Präsidentenwahl 2005 verhalf. Er war im Januar Fernsehchef geworden, nachdem die PiS-Regierung den alten Rundfunkrat KRRiT entmachtet hatte und das Recht, die Intendanten des öffentlichen Rundfunks zu ernennen, für eine Übergangsfrist von sechs Monaten dem Schatzminister übertrug.
Kurz vor dem Ende der Übergangsfrist verabschiedete das polnische Parlament am 23. Juni ein Gesetz über die Schaffung eines neuen Nationalen Medienrates. Er soll Verwaltung und Aufsichtsräte der öffentlichen Medien kontrollieren – also unter anderem Intendanten ernennen und entlassen – und die Qualität der öffentlichen Radio- und Fernsehsender sowie der Nachrichtenagentur PAP sicherstellen. Der Rat besteht aus fünf Mitgliedern: Drei von ihnen bestimmt die parlamentarische Mehrheit, zwei der Staatspräsident aus Vorschlägen der Opposition.
Regierungstreue Medienaufsicht
Vorsitzender des neuen Rates ist Krzysztof Czabanski, ein enger Vertrauter des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski und Beauftragter der Regierung für die Medienreform. Er hatte das öffentliche Radio bereits während der ersten Kaczynski-Regierung 2006 durch Massenentlassungen auf Linie gebracht. Neben zwei weiteren PiS-Mitgliedern sitzen im neuen Medienrat je ein Vertreter der rechtspopulistischen Protestbewegung Kukiz'15 und der liberalen Bürgerplattform PO. Als eine der ersten Amtshandlungen entließ der Nationale Medienrat am 3. August zunächst Fernsehchef Jacek Kurski – um ihn nach einer öffentlichen Ausschreibung am 12. Oktober erneut im Amt zu bestätigen.
Mit der Schaffung des Nationalen Medienrats einher ging die Entmachtung des seit 1992 bestehenden Rundfunkrats KRRiT, dessen Aufgaben in der polnischen Verfassung festgeschrieben sind und der deshalb nicht abgeschafft werden kann. Im Sommer wies das polnische Parlament den Jahresbericht des Rundfunkrats zurück. Er hatte die einseitige Berichterstattung der Hauptnachrichtensendung Wiadomosci im öffentlichen Sender TVP1 kritisiert. Das Gremium wurde daraufhin bis September neu besetzt – genau wie der Nationale Medienrat mit einer deutlichen national-konservativen Mehrheit.
Parlament beschränkt Arbeit von Journalisten
Das polnische Parlament hat derweil die Arbeit von Journalisten stark beschränkt. Reporter dürfen im Sejm nur noch bestimmte Zonen betreten, sind kaum mehr bei Besprechungen zugelassen und dürfen oft nicht direkt mit Politikern reden. Sie können deshalb immer weniger eigene Eindrücke wiedergeben und sind auf Informationen der Pressestellen angewiesen.
Reporter ohne Grenzen ist zudem über mehrere Gesetze besorgt, die die Medienfreiheit gefährden. Ein Anti-Terror-Gesetz vom Juni erlaubt es dem polnischen Inlandsgeheimdienst ABW, Webseiten bis zu fünf Tage lang ohne Gerichtsbeschluss zu sperren. Anfang Oktober diskutierte das Parlament den Entwurf für ein Gesetz, das Geschichtsverfälschung unter Strafe stellt. Wer der polnischen Nation die Verantwortung oder Mitverantwortung an Verbrechen zuschreibt, die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen begangen wurden – wer also zum Beispiel von „polnischen Konzentrationslagern“ spricht – kann demnach mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Genau wie das Anti-Terror-Gesetz ist auch dieser Entwurf unscharf formuliert und kann leicht missbraucht werden. So soll auch bestraft werden, wer Polen anderer, zeitlich nicht definierter Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt oder die echte Verantwortung für sie verzerrt.
Öffentliches Fernsehen verliert Zuschauer ans Internet
Doch auch unabhängig von der weiteren gesetzlichen Ausgestaltung des Mediensystems – geplant ist, die Finanzierung des öffentlichen Rundfunks zu reformieren – hat die PiS-Regierung längst Fakten geschaffen. Zum Beispiel durch massiven Personalaustausch bei den öffentlichen Sendern: Der regierungskritischen Journalistengewerkschaft Towarzystwo Dziennikarskie zufolge wurden seit dem Machtwechsel fast 200 Journalisten entlassen, zur Kündigung gezwungen oder versetzt. Öffentliche Institutionen mussten auf Anordnung der Machthaber die Abonnements regierungskritischer Zeitungen kündigen. Liberale und oppositionelle Printmedien haben zahlreiche Werbekunden verloren, weil Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und große private Firmen Anzeigen nun lieber in der regierungsfreundlichen Presse schalten.
Vor allem der öffentliche Rundfunk hat durch diese Entwicklungen enorm an Popularität eingebüßt. Die Nachrichtensendung Wiadomosci bei TVP1 hat seit dem Machtwechsel rund eineinhalb Millionen Zuschauer verloren. Gleichzeitig expandieren Internetmedien. Die zwei größten Online-Nachrichtenportale Wirtualna Polska und onet.pl bieten inzwischen auch eigene TV-Beiträge. So läuft die Talkshow des entlassenen Fernsehmoderators Tomasz Lis seit Februar auf onet.pl und der Webseite von Newsweek Polska und wurde seither mehr als 30 Millionen Mal angeklickt. Regierungskritische Journalisten haben – zum Teil ehrenamtlich – neue Portale wie mediumpubliczne.pl oder oko.press gegründet, die sich von den öffentlichen Medien vernachlässigten Themen widmen.
Auf der jährlichen Rangliste der Pressefreiheit ist Polen 2016 um 29 Plätze auf Rang 47 gefallen.
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