Algerien-Länderbericht
29.12.2016
Repression hinter Fassade der Medienvielfalt
Strafverfolgung, willkürliche Festnahmen und Behördenschikanen machen unabhängigen Journalismus in Algerien zu einem unkalkulierbaren Risiko. Radio und Fernsehen werden trotz der Öffnung für private Anbieter staatlich gegängelt, unabhängige Zeitungen durch wirtschaftlichen Druck ausgetrocknet. Mit Blick auf die Parlamentswahl im kommenden Frühjahr hat Reporter ohne Grenzen die Lage der Pressefreiheit in Algerien jetzt in einem ausführlichen Länderbericht untersucht.
„Hinter der Fassade einer vielfältigen Medienlandschaft untergräbt die Regierung mit wirtschaftlichen und bürokratischen Schikanen jeden Versuch einer kritischen Berichterstattung“, sagte ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. Oberste Priorität habe derzeit der Fall des wegen Beleidigung staatlicher Institutionen inhaftierten Journalisten Hassan Bouras: „Die Vorwürfe halten keiner Überprüfung stand. Er muss sofort freigelassen werden.“
Bouras wurde am 28. November von einem Gericht in der westalgerischen Stadt El Bayadh zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Wegen der Veröffentlichung dreier Video-Interviews zu Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfen gegen Polizei und Justiz befand es den freien Journalisten und Menschenrechtsaktivisten der Beamtenbeleidigung sowie der Beleidigung und Verleumdung staatlicher Institutionen für schuldig. Auch seine drei Interviewpartner wurden zu jeweils einjährigen Haftstrafen verurteilt. Bouras hat Berufung gegen sein Urteil eingelegt.
Ein Schock für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger war der Tod des in der Hauptstadt Algier inhaftierten algerisch-britischen Journalisten Mohamed Tamalt am 11. Dezember. Tamalt war zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, weil er mit kritischen Veröffentlichungen auf seiner Facebook-Seite Assijak al-Arabi Präsident Abdelaziz Bouteflika beleidigt habe. Gleich nach seiner Inhaftierung Ende Juni hatte er einen Hungerstreik begonnen, Anfang September fiel er ins Koma. Seine Familie verlangt Einsicht in seine Krankenakte und eine unabhängige Untersuchung.
Die meisten privaten Fernsehsender arbeiten ohne Lizenz
Seit der Öffnung des Rundfunksektors für private Medien durch eine Reform 2012 sind rund 50 algerische Fernsehsender gegründet worden. Die meisten von ihnen haben allerdings bis heute keine Lizenz erhalten. Oft haben sie ihre Firmensitze im Ausland, was unter anderem die Akkreditierung ihrer Journalisten erschwert. Der unklare rechtliche Status der Sender ermöglicht zudem willkürliche Beschlagnahmen und Schließungen. So schlossen die Behörden den Sender El Watan TV im Jahr 2015 nach Bouteflika-kritischen Äußerungen eines Studiogasts kurzerhand. Der Verkauf von Sendern wird je nach politischem Gusto erlaubt oder verhindert.
Viele der rund 150 Printmedien halten sich mit Kritik an der politischen Führung zurück, um keine Werbeanzeigen zu verlieren, die ihre wirtschaftliche Basis bilden. Die Schaffung einer gesetzlich vorgesehenen unabhängigen Medienaufsicht, die über Unabhängigkeit und Meinungsvielfalt wachen soll, wird seit Jahren verzögert.
Die Berichterstattung der staatlichen Medien – zehn Printtitel, fünf Fernseh- und acht landesweite Radiosender – konzentriert sich auf die Aktivitäten des Präsidenten und die Beschwörung einer algerischen Identität. Die Opposition kommt in ihnen kaum zu Wort.
Auch die wachsende Zahl von Online-Medien arbeitet in einer rechtlichen Grauzone und kann ihre Journalisten deshalb nicht ordentlich akkreditieren, was sie schutzlos und anfällig für Druckmittel macht. Da es nur einen einzigen, staatlichen Internetanbieter gibt, kann die Regierung den Zugang zum Netz jederzeit abschalten. Im vergangenen Juni etwa blockierte sie die sozialen Netzwerke, um vor den Abiturprüfungen das Durchsickern der Prüfungsfragen zu verhindern.
Pressevergehen werden meist nach dem Strafgesetz abgeurteilt
Die im vergangenen Frühjahr reformierte Verfassung sowie das Mediengesetz von 2012 verbieten zwar auf dem Papier Haftstrafen für Pressevergehen. In der Praxis ignorieren die Gerichte dies jedoch und wenden in einschlägigen Verfahren fast immer das Strafrecht an. Immer wieder werden Journalisten wegen Delikten wie Beleidigung staatlicher Institutionen, Anstachelung von Unruhen oder Veröffentlichungen gegen die nationalen Interessen belangt.
Vor Prozessbeginn werden Journalisten und Bürgerjournalisten oft in Untersuchungshaft genommen – meist im Widerspruch zum geltenden Recht, das dies nur unter genau definierten Voraussetzungen erlaubt. So verbrachten zwei Manager des zum Medienkonzern El Khabar gehörenden Fernsehsenders KBC im vergangenen Sommer dreieinhalb Wochen in Untersuchungshaft, weil ihnen falsche Angaben bei der Beantragung einer Drehgenehmigung vorgeworfen wurden. Unter dem gleichen Vorwand verboten die Behörden eine Satireshow und eine kritische Talksendung des Senders.
Besonders stehen Medien wie die Zeitungen El Watan und El Khabar unter Druck, die sich vor der Präsidentenwahl 2014 gegen die Wiederwahl von Amtsinhaber Bouteflika gewandt hatten. Sie erleben Anfeindungen durch hohe Regierungsvertreter, Schmutzkampagnen im Internet und Drohungen gegen ihre Journalisten.
Im April 2015 musste der Fernsehsender El Djazairia TV abrupt eine Satiresendung aus dem Programm nehmen, nachdem darin die Luxusimmobilienkäufe algerischer Politikerfamilien in Paris thematisiert wurden. Tabuthemen sind auch die Gesundheit des Präsidenten, Korruption und soziale Protestbewegungen.
Akkreditierungen und Visumanträge werden verschleppt
Chefredakteure und Journalisten kritischer Medien wie Abdou Demmar vom Magazin Algeria Focus erleben immer wieder Verleumdungs- und Hetzkampagnen bis hin zu Todesdrohungen. Zum nationalen Tag der Pressefreiheit am 21. Oktober 2016 beschuldigte der Präsident persönlich Online-Medien, sie verbreiteten verleumderische Unterstellungen und subversive Ideen.
Journalisten ausländischer Medien müssen ihre Akkreditierungen jährlich in einem aufwändigen Verfahren verlängern lassen. Oft werden die Verlängerungen erst nach längeren Verzögerungen bewilligt, so dass die Betroffenen in der Zwischenzeit ohne gültige Akkreditierung arbeiten müssen. Im März 2015 wurde Boualem Goumrassa, Korrespondent der panarabischen Zeitung Asharq Al-Awsat, wegen angeblicher öffentlicher Kritik an hohen Regierungsvertretern die Akkreditierung entzogen.
Visumanträge ausländischer Journalisten für Recherchereisen nach Algerien werden oft erst in letzter Minute erteilt. Journalisten der französischen Medien Le Monde und Canal Plus wurden die Visa zur Begleitung einer Algerienreise des französischen Ministerpräsidenten vergangenen April ganz verweigert, weil Le Monde Präsident Bouteflika durch ein Foto mit den internationalen Enthüllungen um die „Panama Papers“ in Verbindung gebracht habe.
Wirtschaftlicher Druck durch Anzeigenetats und staatliche Druckereien
Anzeigenetats werden unverhohlen als Druckmittel gegen kritische Medien eingesetzt. Den Zeitungen El Watan und El Khabar etwa enthalten die staatlichen Institutionen schon seit den 1990er Jahren Werbeanzeigen und damit eine wichtige Einnahmequelle vor. Im Juni 2014 drohte Kommunikationsminister Hamid Grine, ein gut gemanagtes Unternehmen vergebe seine Werbung naturgemäß nur an rechtschaffene Medien. Das Online-Portal Tout sur l’Algérie beschuldigte Industrieminister Abdeslam Bouchouareb im Herbst 2015, er habe wichtige Anzeigenkunden ausdrücklich aufgefordert, keine Werbung auf der Webseite zu schalten.
Ein effizientes Mittel der Kontrolle sind auch die staatlichen Druckereien, auf die ein Großteil der gedruckten Presse angewiesen ist. Soll ein Titel abgestraft werden, verlangt die jeweilige Druckerei plötzlich die sofortige Begleichung seiner Rechnungen. Dies hat wiederholt dazu geführt, dass Titel nicht mehr erscheinen konnten, so beispielsweise 2014 bei Algérie News und El Djazair News.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit nimmt Algerien Platz 129 von 180 Ländern ein.
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