Aserbaidschan
24.05.2012
ROG-Bericht: Zwischen Staatskontrolle und Selbstzensur
Reporter ohne Grenzen (ROG) hat vor dem Eurovision Song Contest (ESC) umfassend über die schwierigen Arbeitsbedingungen für Journalisten in Aserbaidschan informiert. Vom 15. bis zum 20. Mai war ROG-Vertreter Ingo Petz vor Ort in Baku, um sich in Gesprächen mit Journalisten, Bloggern, Politikern und Menschenrechtsaktivisten ein Bild von der Situation zu machen. Dieser Bericht fasst die Ergebnisse der Recherchereise zusammen und gibt einen Überblick über die aktuelle Lage der Medien in Aserbaidschan.
Vor dem ESC: Überwältigendes Medieninteresse und politischer Lobbyismus
„Der ESC ist für uns ein Glücksfall“, fasst der in London lebende aserbaidschanische Blogger Emin Milli zusammen, „so viel Aufmerksamkeit hat Aserbaidschan noch nie bekommen.“ Tatsächlich haben westliche Medien nie so viel über Aserbaidschan berichtet, wie vor dem Eurovision Song Contest am 26. Mai 2012 in Baku. Die aserbaidschanische Regierung investiert hohe Summen, um u.a. mit Hilfe der Berliner Public-Affairs-Agentur Consultum Communications das Bild eines modernen, offenen Landes zu zeichnen.
Dennoch dominierten in den vergangenen Wochen Menschenrechtsverletzungen und politische Gefangene die Berichte deutschsprachiger Medien über Aserbaidschan. Regierungskritische Aktivisten erhielten in Interviews breiten Raum, ausführlich wurden Übergriffe auf unabhängige Journalisten geschildert, etwa die Schmutzkampagne gegen die investigative Reporterin Khadija Ismayilova oder der brutale Angriff auf Idrak Abbasow. Der 35-jährige Journalist wurde Mitte April von Sicherheitsleuten der staatlichen Ölfirma Socar bewusstlos geschlagen – derselben Firma, die nun das von der Agentur Hardenberg Concept organisierte Private Viewing des Eurovision Song Contests der aserbaidschanischen Botschaft in Berlin finanziell unterstützt.
Regimetreue Medien in Aserbaidschan reagierten umgehend auf die kritische Berichterstattung in Deutschland: Der staatliche Fernsehsender Az-TV berichtete Anfang März über Drogenabhängige und Prostituierte in deutschen Großstädten, im April wurde der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum Thema. Die gleichnamige Zeitung der Regierungspartei Yeni Aserbaidschan veröffentlichte Anfang Mai eine Foto-Collage, die den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, den deutschen Botschafter in Baku, Herbert Quelle, und aserbaidschanische Oppositionsführer neben Adolf Hitler zeigte.
ROG forderte vor dem ESC alle Beteiligten – Jury, Produzenten, Sänger und Journalisten – dazu auf, Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan nicht zu ignorieren. Einen Boykott des ESC lehnte die Organisation jedoch ab. Khadija Ismayilova, eine der bekanntesten Journalistinnen aus Baku, beschrieb die Folgen des enormen Medieninteresses für ihr Land: „Weil die ganze Welt uns zuhörte, ist zum ersten Mal – zumindest für eine kurze Zeit – auch die Regierung gezwungen, uns zuzuhören. Danach aber erwarten wir einen heißen Sommer. Die Regierung wird sich an denen rächen, die ihnen das Fest verdorben haben.“
Nach dem ESC: Schlussfolgerungen und Forderungen
Reporter ohne Grenzen fordert internationale Berichterstatter dazu auf, die Situation in Aserbaidschan nach dem Ende des Eurovision Song Contests im Blick zu behalten. ROG befürchtet, dass die Regierung rigoros gegen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten vorgeht. Unabhängige Journalisten müssen Versuche politischer Einflussnahme auf die Berichterstattung und Verflechtungen zwischen Politik, PR-Agenturen und Lobbyisten aufdecken.
Reporter ohne Grenzen fordert die aserbaidschanische Regierung dazu auf, inhaftierte Journalisten und Blogger freizulassen. Ausländische Berichterstatter müssen auch nach dem ESC ungehindert ins Land kommen, die für die Veranstaltung erleichterten Visa-Regelungen sollten beibehalten werden. Außerdem muss Aserbaidschan den internationalen Verpflichtungen nachkommen, die sich aus seiner Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat (2012/2013) und im Europarat (seit 2001) ergeben. Dies gilt besonders für Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die freie Meinungsäußerung garantiert.
Reporter ohne Grenzen fordert deutsche und internationale Politiker dazu auf, auf der Einhaltung internationaler Menschenrechtsverträge zu bestehen und diese zur Bedingung für politische Zusammenarbeit zu machen. Themen wie Menschenrechte und Pressefreiheit dürfen wirtschaftlichen Interessen nicht untergeordnet werden.
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