Irak 20.11.2015

Systematische Verbrechen an Journalisten

Die vom IS zerstörte Moschee des Propheten Jona in Mossul. © picture alliance / AP Photo

Seit ihrer Eroberung durch die Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) sind in der irakischen Großstadt Mossul 48 Journalisten und andere Medienschaffende entführt und mindestens 13 davon ermordet worden. Diese Zahlen ergeben sich aus einem gemeinsamen Untersuchungsbericht von Reporter ohne Grenzen (ROG) und ihrer irakischen Partnerorganisation Journalistic Freedoms Observatory (JFO).

Mindestens zehn der Entführten befinden sich noch in den Händen des IS. 60 Journalisten und Medienmitarbeiter sind aus der Stadt geflohen; mehrere wurden ermordet, nachdem sie aus Mangel an Perspektiven in anderen Teilen Iraks nach Mossul zurückkehrten.

„Diese Zahlen macht deutlich, dass die Dschihadisten des IS vor nichts zurückschrecken, um den Nachrichtenfluss aus ihrem Herrschaftsgebiet vollständig zu kontrollieren“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die irakische Regierung steht in der Verantwortung, Journalisten zu schützen, die im eigenen Land auf der Flucht sind. Der UN-Sicherheitsrat muss die Verbrechen des IS im Irak endlich dem Internationalen Strafgerichtshof vorlegen.“

Iraks zweitgrößte Stadt Mossul wurde am 10. Juni 2014 vom IS eingenommen. Am selben Tag besetzte der IS (der damals noch als „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ firmierte) die Gebäude von acht Fernseh- und Radiosendern und beschlagnahmte deren technische Ausrüstung. Eine unabhängige Medienberichterstattung gibt es seitdem in Mossul nicht mehr. Durch die Beschlagnahmen gelangte der IS in den Besitz hochmoderner Sendetechnik, die er nun für seine Propagandasender Dabik TV und Al-Bajan FM nutzt. 

Der Untersuchungsbericht von ROG und JFO enthält die Namen und Kurzbiografien der Journalisten, Bürgerjournalisten und Medienmitarbeiter, die seit der Besetzung Mossuls zu Opfern der IS-Kampagne gegen unabhängige Medien geworden sind. Er beruht auf dreimonatigen Recherchen einschließlich zahlreicher Interviews mit Informanten aus Mossul und anderen Teilen Iraks. Obwohl aus Mossul seit dem Juni 2014 fast keine unabhängigen Informationen dringen, haben ROG und JFO die Informationen in diesem Bericht so gut wie irgend möglich verifiziert.

Hingerichtet für verfängliche Telefonnummern im Handy

Durch die Besetzung der Medienzentralen fielen dem IS auch die Mitarbeiterlisten mit den Namen und Adressen aller Journalisten in Mossul in die Hände. Bald darauf startete die Gruppe eine gezielte Jagd. Nach JFO-Recherchen wurden bislang 13 Journalisten und Medienmitarbeiter hingerichtet, darunter auch Journalismus-Studenten der Universität Mossul. 

Zu den Getöteten gehört etwa Kais Talal (27 Jahre), ein Korrespondent des Fernsehsenders Sama Mosul. Er wurde nach mehr als vier Monaten Gefangenschaft am 8. Februar 2015 im Zentrum Mossuls von IS-Kämpfern erschossen. Einem örtlichen Journalisten zufolge warf der IS ihm Spionage und Kontakte mit staatlichen Medien vor.

Thaer al-Ali (45), Chefredakteur der Lokalzeitung Rai‘ al-Nas, wurde am 26. April 2015 wegen „Kollaboration mit IS-feindlichen Medien“ hingerichtet, weil die Extremisten in seinem Handy gespeicherte Telefonnummern und Namen von Vertretern der Provinzbehörden fanden. Am 9. August 2015 richtete der IS den 20-jährigen Journalismus-Studenten Suhair Kinan al-Nahass hin. Er hatte von seiner Wohnung aus das Wrack eines Autos des IS fotografiert, das durch eine ausländische Rakete zerstört worden war; bald darauf kursierte das Foto in irakischen Medien.

Der Fotojournalist Jala’a Adnan al-Abadi wurde am 16. Juli 2015 hingerichtet. Nach seiner kurzzeitigen Festnahme im Juni 2014 war er aus Mossul geflohen, fand aber in anderen Teilen Iraks weder Arbeit noch Unterstützung etwa durch die Journalistengewerkschaften in Bagdad oder der autonomen Provinz Kurdistan. Deshalb entschloss er sich Anfang 2015 zur Rückkehr nach Mossul. Knapp vier Monate darauf verschleppten ihn IS-Extremisten aus seiner Wohnung und brachten ihn in ein Internierungslager im Stadtzentrum, wo sie ihn sofort hinrichteten.

Von zehn Entführten fehlt bis heute jede Spur

Von den insgesamt 48 seit Juni 2014 entführten Journalisten und Medienmitarbeitern konnten 25 durch die Vermittlung örtlicher Großfamilienverbände und Stämme befreit werden; in der Geiselhaft wurden sie schwer gefoltert. Die noch immer Entführten werden vermutlich in den Internierungslagern Tasfirat, Badusch und Ghaslani festgehalten. Der Fotojournalist Hischam al-Hirbawi berichtete nach seiner Freilassung, die Extremisten hätten ihn unter Folter über die Arbeit und die Kommunikationskanäle der Journalisten in Mossul verhört.

Während einer dreitägigen Kampagne Ende Oktober 2014 entführten IS-Extremisten 14 Journalisten und Mitarbeiter des ehemals von den regionalen Behörden finanzierten Satellitenfernsehsenders Sama Mosul. Der IS warf ihnen vor, sie hätten den Sender Ninwa al-Ghad mit Berichten aus der Stadt beliefert. Neun der 14 Entführten wurden rund drei Wochen später freigelassen, auch sie nach schwerer Folter.

Von zehn der vom IS entführten Journalisten und Medienmitarbeiter fehlt bis heute jede Spur. Dschamal al-Masri etwa wird seit dem 4. Juli 2014 vermisst; manche Kollegen vermuten, dass er sich nach wie vor in der Gewalt des IS befindet. Al-Masri (50) hatte als Moderator beim Sender Al-Mosulija TV Vertreter der staatlichen Sicherheitsbehörden als Gäste eingeladen und das Vorgehen bewaffneter Gruppen kritisiert. Keine Informationen gibt es auch über das Schicksal von Mohamed Ibrahim, einem Korrespondenten der Nachrichtenagentur Al-Ain, den IS-Extremisten am 31. Dezember 2014 aus seiner Wohnung in ein Internierungslager verschleppten.

Fernseh- und Radiosender gezielt besetzt und übernommen

Welche zentrale Bedeutung der IS der Kontrolle über die Medien beimisst, zeigt auch der Umstand, dass die Gruppe sofort nach ihrem Einmarsch in Mossul Kämpfer abstellte, um Gebäude und Technik insbesondere von Fernseh- und Radiosendern vor Schäden durch Kämpfe mit der irakischen Armee zu schützen. Innerhalb eines Tages übernahmen die Dschihadisten die Satellitenfernsehsender Sama Mosul, Ninwa al-Ghad und Al-Mosulija sowie den terrestrisch ausgestrahlten Sender Kanat Ninwa des regierungseigenen Irakischen Mediennetzwerks, außerdem die Radiosender Idha‘at Ninwa, Raschid, Dar Essalam and Ninwa FM.

Offenbar mit geraubter Technik von Sama Mosul produzierten sie auch die Bilder des ersten öffentlichen Auftritts des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi am 7. Juli 2014 in der Al-Nuri-Moschee im Zentrum Mossuls.

Der Irak steht auf Platz 156 von 180 Staaten auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Seit 2003, als US-geführte Truppen im Irak einmarschierten, wurden allein in Mossul laut Zählung des JFO insgesamt 60 irakische Medienschaffende getötet. 37 davon starben im Dienst.



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