Syrien
15.03.2021
Hunderte Journalisten tot, gefangen, geflohen
Im Krieg in Syrien sind mehr Journalistinnen und Journalisten getötet worden als in bislang jedem anderen Konflikt weltweit. Zum zehnten Jahrestag des Aufstands gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad hat Reporter ohne Grenzen Zahlen zu den verheerenden Folgen zusammengetragen, die der daraus entstandene Bürgerkrieg für die Medienfreiheit gehabt hat. Demnach wurden in Syrien seit 2011 mindestens 300 Medienschaffende getötet, möglicherweise sogar noch deutlich mehr. Über 300 wurden verhaftet und fast 100 entführt. Von fast 100 der Verhafteten oder Entführten fehlt bis heute jede Spur. Hunderte weitere Journalistinnen und Journalisten sind ins Ausland geflohen.
„Auch wenn dieser Krieg nicht mehr die Schlagzeilen beherrscht, riskieren in Syrien bis heute Journalistinnen und Journalisten ihre Freiheit oder ihr Leben“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Syrien wird keinen echten Frieden finden, bis die letzten inhaftierten oder entführten Medienschaffenden freigelassen werden, bis die Angehörigen Klarheit über die Schicksale der vielen Vermissten haben und bis die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Die von RSF zusammengestellten Zahlen schließen sowohl professionelle Journalistinnen und Journalisten ein als auch Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten, die ohne einschlägige Ausbildung oder den Auftrag einer Redaktion unter dem Eindruck der Ereignisse begannen, wichtige Informationen zu sammeln und zu verbreiten.
Getötet bei Berichten über Angriffe oder ermordet
RSF hat Informationen über mindestens 300 Medienschaffende zusammengetragen, die in Syrien getötet wurden, als sie über Granatenbeschuss oder Luftangriffe berichteten – oder die von einer der vielen Konfliktparteien ermordet wurden. Tatsächlich könnte die Zahl noch deutlich höher sein: Das Syrische Menschenrechtsnetzwerk sprach in einem 2020 veröffentlichten Bericht von mehr als 700 getöteten Journalistinnen und Journalisten; für rund drei Viertel davon sei das Regime verantwortlich. Bestätigen lässt sich eine solche Zahl derzeit nicht, weil Recherchen in Syrien äußerst schwierig sind und weil sowohl die Regierung als auch Rebellengruppen versuchen, das Ausmaß ihrer Gräueltaten zu verschleiern.
Die Zahlen von mehr als 300 verhafteten und fast 100 entführten Journalistinnen und Journalisten seit 2011 ergeben sich aus Informationen, die das Syrische Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit – eine Partnerorganisation von RSF – zusammengetragen hat und weiterhin verifiziert. In den ersten beiden Jahren des Bürgerkriegs verhafteten vor allem das Assad-Regime und seine Geheimdienste Medienschaffende. In den Jahren danach verfolgten auch andere Konfliktparteien Journalistinnen und Journalisten, darunter vor allem Dschihadistengruppen wie der Islamische Staat, die Al-Nusra-Front und Dschaisch al-Islam.
Die bis heute verschwundene Bürgerjournalistin und Aktivistin Rasan Saitune zum Beispiel wurde im Dezember 2013 in Duma entführt, einem Vorort der Hauptstadt Damaskus, der zu dieser Zeit von der Gruppe Dschaisch al-Islam kontrolliert wurde. Aktuell gehören kurdische Kräfte zu jenen, die Medienschaffende verschleppen – allein seit Jahresbeginn waren es schon drei.
Jahrelange Ungewissheit für Angehörige
Fast 100 verhaftete oder entführte Medienschaffende werden bis heute vermisst. Ihre Familien haben trotz oft jahrelanger Bemühungen keine Klarheit über ihre Schicksale. Unter ihnen sind auch ausländische Journalisten wie der US-amerikanische Reporter Austin Tice, der seit August 2012 vermisst wird. Mangels gesicherter Informationen muss man annehmen, dass einige der vermissten Journalistinnen und Journalisten zu Tode gefoltert oder hingerichtet wurden. Mitunter konnten zumindest ehemalige Mithäftlinge ihren Tod bezeugen und den Angehörigen Klarheit verschaffen.
Erst in jüngerer Zeit haben die syrischen Behörden begonnen, mit oft jahrelanger Verspätung offizielle Totenscheine auszustellen. Der Witwe des 2012 verhafteten Journalisten Dschehad Dschamal alias Milan zum Beispiel wurde der Tod ihres Mannes erst Anfang 2020 bestätigt. Laut Totenschein war er vier Jahre zuvor im Militärgefängnis Saidnaja gestorben, das Menschenrechtsorganisationen als „Schlachthaus für Menschen“ bezeichnet haben. Ähnlich ging es den Hinterbliebenen des Bürgerjournalisten Ali Othman, der ein wichtiger Helfer für ausländische Journalistinnen und Journalisten in der Rebellenhochburg Homs war. Er war schon 2012 verhaftet worden, aber erst Anfang 2019 teilte das Standesamt Homs seiner Familie mit, dass er und sein Bruder Ibrahim 2013 im Gefängnis gestorben seien.
Hunderte weitere Journalistinnen und Journalisten sind ins Ausland geflohen, um Verhaftung oder Tod zu entgehen. Dieser Exodus von Medienschaffenden hat sich noch verstärkt, seit die Truppen des Assad-Regimes in den vergangenen zwei Jahren weite Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht und fast die letzten Enklaven der Opposition zurückerobert haben. So unterstützte RSF 2018/2019 eine Gruppe von 30 Journalistinnen und Journalisten aus Daraa im Süden Syriens, die aus Furcht vor der Vergeltung der vorrückenden Assad-Truppen ins Ausland in Sicherheit gebracht werden mussten.
Bis heute bildet Syrien einen Schwerpunkt der Nothilfearbeit von Reporter ohne Grenzen. Mehr als 250 syrische Journalistinnen und Journalisten sowie 26 Medien erhielten in den vergangenen zehn Jahren finanzielle Unterstützung oder Training von RSF. Dutzende Medienschaffende sind in der Provinz Idlib weiterhin in großer Gefahr, der letzten von einer Dschihadistengruppe gehaltenen Region Syriens.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Syrien auf Platz 174 von 180 Ländern weltweit.
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