Afghanistan 15.09.2021

Afghanische Journalisten nicht im Stich lassen

Bundesaußenminister Maas auf dem Gymnich-Treffens in Brdo, 03.09.2021. Beim informellen Treffen der EU-Außenminister ging es v.a. um Afghanistan. © picture alliance / photothek | Florian Gaertner
Bundesaußenminister Maas auf dem Gymnich-Treffens in Brdo, 03.09.2021. Beim informellen Treffen der EU-Außenminister ging es v.a. um Afghanistan. © picture alliance / photothek | Florian Gaertner

Reporter ohne Grenzen (RSF) begrüßt die pauschale Aufnahmezusage des Bundesinnenministeriums (BMI) für mehr als 2000 schutzsuchende Menschen aus Afghanistan, unter ihnen auch Journalistinnen und Journalisten. Gleichzeitig kritisiert die Organisation jedoch das unkoordinierte und intransparente Vorgehen der Bundesregierung bei der Rettung afghanischer Medienschaffender in den vergangenen Wochen. Medienmitarbeitende vor Ort müssen unter den Taliban um ihr Leben fürchten und sollten so schnell und unbürokratisch wie möglich Afghanistan oder unsichere Drittländer, in die sie geflüchtet sind, verlassen können. Doch die Gespräche, die RSF in den vergangenen Wochen auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Auswärtigen Amt und dem BMI geführt hat, spiegeln diese Dringlichkeit nicht wider.

Die zuständigen Ministerien haben sich gegenseitig die Verantwortung zugeschoben und damit Evakuierungs- und Aufnahmeverfahren blockiert. Erfreulich ist zwar, dass nun offenbar einzelne von der Organisation an das Auswärtige Amt übermittelte Namen von afghanischen Medienschaffenden auf einer offiziellen Liste mit aufnahmeberechtigten Personen stehen. Das wurde RSF am Dienstagabend auf Nachfrage telefonisch mitgeteilt. Doch wie viele und welche der Journalistinnen und Journalisten von diesem längst überfälligen Schritt profitieren können, ist weiterhin unklar. Offen bleibt auch die Frage, warum die Liste des Auswärtigen Amtes an das BMI „geschlossen“ werden soll, also nach einem bestimmten Stichtag keine Fälle mehr aufgenommen werden, obwohl immer noch einige Medienschaffende verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen. Vor dem Hintergrund hat RSF in einem Pressegespräch am Mittwoch (15.09.) die Nothilfearbeit und Gespräche der Organisation der vergangenen Wochen zusammengefasst und Forderungen an die Bundesregierung gestellt. 

„Die Aufnahmezusage des BMI ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, er reicht jedoch nicht aus. Denn Überlegungen, die Sicherheitsüberprüfungen in Kabul durchführen zu lassen, sind angesichts der Lage vor Ort weltfremd”, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Für viele bedrohte Medienschaffende in Afghanistan schwindet gerade die Hoffnung, einem der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit noch zu entkommen. Dabei hatte Bundesaußenminister Heiko Maas noch kürzlich gesagt, er wolle dazu beitragen, dass verzweifelte Menschen nicht im Stich gelassen werden. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer wollen wir an seine Worte erinnern, besonders schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Die Bundesregierung muss endlich transparent offenlegen, inwieweit sie die von RSF übermittelten hoch gefährdeten afghanischen Journalistinnen und Journalisten als schutzbedürftig ansieht und schnell beginnen, Lösungen umzusetzen, die Menschenleben retten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Intransparenter Umgang mit RSF-Liste

RSF hat in den vergangenen vier Wochen eine mehrmals aktualisierte Namensliste mit zuletzt mehr als 152 hoch gefährdeten Medienschaffenden an das Auswärtige Amt übermittelt. Auf der Liste standen auch Dutzende Reporterinnen, die in zweifacher Hinsicht gefährdet sind: Als Frau und als Journalistin. Nach RSF-Informationen wurde bisher nur eine Journalistin, die auf der Liste der Organisation stand, jedoch auch gute Kontakte zur Bundeswehr hatte, aus Kabul ausgeflogen. Im Rahmen der zivilgesellschaftlichen „Luftbrücke Kabul“ wurden fünf Medienschaffende und ihre Angehörigen von der US-Armee ausgeflogen.

Bis zuletzt hatte die Bundesregierung nicht transparent offengelegt, ob sie die Medienschaffenden auf dieser Liste als schutzbedürftig ansieht und inwiefern diese Liste bereits bearbeitet wurde. Am Montagabend berichtete die dpa, dass das Auswärtige Amt eine Liste mit 2600 besonders schutzbedürftigen Personen – unter ihnen auch Journalistinnen und Journalisten – an das BMI übermittelt habe und dieses nun beginne, ihnen Aufnahmezusagen auszustellen. Laut einem BMI-Sprecher erhalten diese Menschen sowie ihre Lebenspartner und Kinder einen Aufenthaltstitel für Deutschland, müssen also kein Asyl beantragen. RSF begrüßt diese Entscheidung. Auf der Liste stehen nach Auskunft des Auswärtigen Amtes auch von RSF genannte Namen, jedoch bleibt unklar, wie viele, wer und inwieweit die komplette Namensliste der Organisation berücksichtigt wurde. Intransparent bleibt auch die Frage, wen die Bundesregierung nach welchen Kriterien als „besonders gefährdet“ einstuft.

Hinzu kommen Signale sowohl vom BMI als auch vom Auswärtigen Amt, dass die offizielle Liste besonders schutzbedürftiger Personen aus pragmatischen Gründen „geschlossen“ werden soll. Sollten bis zu einem bestimmten Stichtag wirklich keine Namen mehr auf die Liste gesetzt werden, wäre das eine menschenunwürdige Entscheidung, die an der Realität vorbeigeht: Noch immer erreichen RSF täglich verzweifelte Hilferufe afghanischer Journalistinnen und Journalisten, die es nicht geschafft haben, mit einem Evakuierungsflug aus Kabul gerettet zu werden oder in Drittstaaten Gefahr laufen, aufgegriffen und nach Afghanistan zurückgeschickt zu werden. RSF dokumentiert diese Fälle weiterhin.

Vor dem Hintergrund der politischen Gespräche fordert RSF einen engeren Austausch zwischen dem Auswärtigen Amt und dem BMI. Dazu gehört auch eine von außen ersichtliche, klare Zuständigkeit und nicht immer wieder wechselnde Ansprechpersonen in beiden Ministerien, die die Nothilfearbeit der Organisation erschweren.

Ausführliche Verifizierung durch RSF

Das BMI sollte zudem zügig mit der Bearbeitung der ersten Fälle beginnen und jetzt die Weichen für effektive Sicherheitsüberprüfungen stellen, um nicht wie in Aussicht gestellt  möglicherweise Monate dafür zu benötigen. Überlegungen, eine Sicherheitsüberprüfung in Kabul durchführen zu lassen, sind angesichts der Situation vor Ort und der Dringlichkeit nicht angemessen. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die dafür zum Beispiel in Frage kommen könnte, ist nach RSF-Informationen derzeit nicht in Kabul arbeitsfähig, geschweige denn in anderen afghanischen Regionen und Städten.

Das betrifft auch afghanische Journalistinnen und Journalisten, die auf eigene Faust in Drittstaaten wie dem Iran, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan oder die Türkei geflüchtet sind. Eine langwierige Sicherheitsüberprüfung birgt das Risiko, dass ihre Visa ablaufen und sie zurück nach Afghanistan müssen.

In einem ausführlichen Verifizierungsprozess hat RSF bereits alle der Bundesregierung übermittelten Fälle überprüft. Jede Anfrage an RSF unterläuft einer Bestätigung der journalistischen Tätigkeit der Person und Überprüfung ihrer spezifischen Bedrohungslage durch RSF-Mitarbeitende vor Ort in Afghanistan sowie in Berlin ansässige Kolleginnen, die als exilierte afghanische Journalistinnen über einen detaillierten Einblick in die afghanische Medienwelt verfügen. Im Rahmen der Verifizierung werden eingereichte Dokumente, sowie die öffentlich zugängliche journalistische Arbeit geprüft.

Taliban misshandeln Journalisten

Wie akut die Lage ist, zeigen die von RSF fortlaufend dokumentierten Fälle einiger Journalistinnen und Journalisten, die von den Taliban bedroht, teils misshandelt und zwischenzeitlich festgehalten wurden. Die Organisation weist darauf hin, dass viele Übergriffe in Kabul gemeldet werden, wo die Taliban unter internationaler Beobachtung stehen. In den Provinzen fernab der Hauptstadt, aus denen kaum noch unabhängige Nachrichten dringen, ist die Situation vermutlich noch viel dramatischer.

 

Der afghanische Journalist Wahid Payman, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Hasht e Subh, ist derzeit in Deutschland und steht für Interviews zur Verfügung.


Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die vor der de-facto-Machtübernahme der Taliban veröffentlicht wurde, steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten.



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