Vereinigtes Königreich / USA 13.10.2020

Assange-Verfahren: RSF kritisiert Intransparenz

Die Lebenspartnerin von Julian Assange, Stella Moris, gibt umringt von Unterstützerinnen und Unterstützern ein Statement vor dem Old Bailey in London ab
Die Lebenspartnerin von Julian Assange, Stella Moris, vor dem Old Bailey © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Yui Mok

Nachdem Reporter ohne Grenzen (RSF) vier Wochen lang das Auslieferungsverfahren des Wikileaks-Gründers Julian Assange beobachtet hat, bekräftigt die Organisation ihre Forderung an Großbritannien, Assange umgehend freizulassen. Im Zeugenstand haben Expertinnen und Experten in den vergangenen Wochen zahlreiche Argumente dafür vorgelegt: Das Verfahren sei politischer Natur, die US-Regierung habe keine Beweise dafür, dass durch Wikileaks-Enthüllungen Menschen zu Schaden gekommen sind, und die physische und psychische Gesundheit Assanges gäben Anlass zu größter Sorge. Auch die umfangreichen Zugangsbeschränkungen für unabhängige Beobachterinnen und Beobachter des Verfahrens warfen kein gutes Licht auf die britische Justiz.

„Wir sind zutiefst schockiert über das, was wir in Julian Assanges Auslieferungsverfahren erlebt haben. Für uns ist klar, dass er wegen seiner Beiträge zu journalistischer Berichterstattung angeklagt wurde und dass das Verfahren gegen ihn rein politisch motiviert ist“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr, der während der Anhörungen im Gericht in London war. „Wir fordern erneut, dass die Anklage fallengelassen und Julian Assange unverzüglich freigelassen wird. Er darf nicht an die USA ausgeliefert werden. Denn angesichts seines Gesundheitszustands ist die Frage, ob er ausgeliefert wird, ganz klar eine Frage von Leben oder Tod.“

Die Vorwürfe der USA gegen Assange stützen sich auf 17 Anklagepunkte aus dem sogenannten Espionage Act (Gesetz gegen Spionage von 1917). Ein weiterer betrifft das Gesetz gegen Computerbetrug und -missbrauch. Hintergrund sind Wikileaks-Publikationen aus den Jahren 2010 und 2011, in denen die Plattform hunderttausende militärische und diplomatische Papiere der USA veröffentlichte, die sie von der Whistleblowerin Chelsea Manning erhalten hatte. Die Strafe könnte sich auf bis zu 175 Jahre Haft summieren. Die geleakten Papiere hatten eine umfangreiche Medienberichterstattung über Themen von großem öffentlichem Interesse ermöglicht, darunter Berichte über Menschenrechtsverletzungen der USA in Guantanamo, im Irak und in Afghanistan.

Transparentes Verfahren war unmöglich

Die Anhörungen hatten bereits im Februar mit einer ersten Sitzungswoche begonnen, bei der überwiegend die rechtlichen Grundlagen adressiert wurden. Eine Fortsetzung war eigentlich für Mai vorgesehen, wurde aber aufgrund der Corona-Pandemie verschoben. Aus demselben Grund wurde das Verfahren vom Woolwich Crown Court in den deutlich größeren Central Criminal Court verlegt.

Während die deutsche Bundesregierung auf Journalistenfragen stets betont, sie habe keinen Grund, an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahren in Großbritannien zu zweifeln, zeigen Unterlagen des Auswärtigen Amtes (AA), dass die deutsche Botschaft in London durchaus Beobachter zur ersten Sitzungswoche des Auslieferungsverfahrens entsandt hat. Die entsprechenden Unterlagen hat das AA auf einen Antrag von fragdenstaat.de nach dem Informationsfreiheitsgesetz zugänglich gemacht. Sie zeigen auch, dass sich das AA zuvor aus Genf, Quito, Stockholm, London und Washington über den Fall unterrichten ließ. In einem Dokument werden beispielsweise die in Medienberichten beschriebenen schlechten Haftbedingungen Assanges im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh als „durchaus denkbar“ bezeichnet.

Nachdem es bereits im Februar Einschränkungen bei der Berichterstattung gegeben hatte, kontaktierte RSF vor der erneuten Prozessaufnahme frühzeitig und mehrfach das Gericht, um sicherzustellen, dass eine Vertreterin oder ein Vertreter von RSF persönlichen Zugang zum Gerichtssaal erhalten würde. Schlussendlich wurde RSF nur darüber informiert, dass NGOs kein Zugang garantiert werden könnte. Gerechtfertigt wurde dieser Schritt durch pandemiebedingte Hygienemaßnahmen, die nur wenige Plätze für Medien im Saal und noch weniger Plätze für die allgemeine Öffentlichkeit und somit auch für NGOs auf der Galerie erlauben würden. Am 1. September wurde RSF mitgeteilt, dass eine Beobachterin oder ein Beobachter pro Organisation den Prozess über die Cloud Video Platform (CVP) beiwohnen könnte. Dazu kam es jedoch nie, da RSF und andere NGOs zu Beginn des Verfahrens am 7. September die Mitteilung erhielten, dass die Integrität des Gerichts durch das Beisein von unabhängigen Beobachterinnen und Beobachtern über CVP gefährdet sein könnte. Der geteilte Link wurde wieder zurückgezogen.

Trotz dieser massiven Einschränkungen erhielt RSF durch langes Anstehen als einzige NGO bei den meisten Sitzungen der 18 Verhandlungstage Zugang zu den wenigen Plätzen auf der öffentlichen Tribüne in einem Nebensaal des Gerichtssaals. Aufgrund der Hygienemaßnahmen stellte das Gericht dort nur fünf Plätze zur Verfügung. In Mitteilungen hieß es mehrfach, dass diese an die Beobachterinnen oder Beobachter vergeben würden, die als erstes im Gericht einträfen. Dieser Vorsatz wurde in der Praxis jedoch nicht eingehalten: In den ersten eineinhalb Stunden am Morgen und in der ersten halben Stunde am Nachmittagwurden stets drei Plätze für nicht näher bezeichnete „VIPs" reserviert. Das bedeutete, dass oft nur zwei Mitglieder der Öffentlichkeit, einschließlich NGOs, anwesend sein konnten. Nachdem RSF erfuhr, dass es sich bei den „VIPs“ um Diplomatinnen und Diplomaten handelte, die gar nicht wussten, dass diese Sitze für sie reserviert waren, führte ein Einspruch vor Gericht schließlich dazu, dass ab dem 24. September alle fünf Sitze für die Öffentlichkeit zugänglich waren.

Trotz dieses Aufwands konnten die Beobachterinnen und Beobachter von RSF von ihren Plätzen aus nur einen kleinen Fernsehbildschirm sehen, auf dem oft nicht zu erkennen war, wer gerade sprach oder wo sich jemand befand. Assange selbst saß getrennt von seinen Anwälten in einem Glaskasten im hinteren Teil des Gerichtsaals. Dieser war auf dem Bildschirm gar nicht einzusehen, so dass weder Assanges Wohlbefinden noch seine Aufnahmefähigkeit oder die Frage, ob er sich problemlos mit seinem Rechtsbeistand verständigen konnte, zu bewerten war – Hürden, mit denen sich Assange und seine Rechtsbeistände bereits im Februar kontrontiert gesehen hatten.

Auch kam es während des Verfahrens wiederholt zu technischen Problemen: So konnten Zeugenaussagen nicht gehört werden, da die Videoschalte nicht funktionierte. Wenn die Videostreams liefen, kam es häufig zu Schwierigkeiten in der Audioübertragung, was eine Verfolgung des Verfahrens weiter erschwerte. Einmal fiel die Tonübertragung für etwa zehn Minuten vollständig aus. Dabei verpassten die Beobachterinnen und Beobachter sowie die Öffentlichkeit das entscheidende Argument, ob Aussagen von Khaled El-Masri, einem Zeugen der Verteidigung, fürs Protokoll akzeptiert werden sollten. El-Masri wurde, so ein Urteil des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte, widerrechtlich von Mazedonien an die US-Behörden ausgeliefert, die ihn folterten und nach Afghanistan entführten.  

Aussagen von Zeuginnen und Zeugen sollen Assange entlasten

Insgesamt sagten 47 Zeuginnen und Zeugen aus, 44 für die Verteidigung und drei für die Anklage. 22 von ihnen sagten persönlich aus, während die anderen ihre Aussagen zu Protokoll geben ließen. Die Beweise konzentrierten sich auf verschiedene Aspekte des Falls, darunter auf den eigentlichen Grund des Verfahren, die Beschaffung sowie die Umstände der Veröffentlichung der geleakten Papiere. Darüber hinaus wurden die Überwachung von Assange und seinen Besucherinnen und Besucher in der ecuadorianischen Botschaft in London, Assanges Gesundheitszustand sowie die möglichen Haftbedingungen, die ihm in den USA drohen würden, thematisiert.

Im Zuge der Anhörung wurde mehrfach deutlich, dass die USA keine Beweise dafür haben, dass Julian Assange Quellen „ernsthaft und unmittelbar“ gefährdet hat, wie die Anklage behauptet. Dagegen steht die Zeugenaussage von Khaled El-Masri, dass die von Wikileaks veröffentlichten Informationen die Gräueltaten, denen er ausgesetzt war, enthüllten und als wichtiger Beweis in seinem Streben nach Gerechtigkeit dienen. Auch Daniel Ellsberg, Whistleblower in den Pentagon Papers, nannte das Verfahren politisch. Er betonte, dass Assange keine faire Behandlung zukomme und dass eine Verurteilung nach dem Spionagegesetz grundsätzlich nicht gerecht sei, wenn sie nicht das öffentliche Interesse an den Veröffentlichungen berücksichtige. Ellsberg demonstrierte Solidarität mit Assange und lehnte den Versuch ab, die Pentagon-Papiere als „gut“ und Wikileaks als „schlecht“ darzustellen. Vielmehr zeigte er die Ähnlichkeiten in den beiden Fällen auf. Die verlesene Erklärung des US-amerikanischen emeritierten Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology, Noam Chomsky betonte in ähnlicher Weise die politischen Beweggründe der Anklage.

Der ehemalige Spiegel-Redakteur John Goetz betonte, dass Wikileaks die unzensierten militärischen und diplomatischen Papiere erst veröffentlicht habe, als sie schon von der Website Cryptome und einigen Medienhäusern veröffentlicht worden waren. In einer Erklärung, die der Gründer von Cryptome, John Young, zu Protokoll gegeben hatte, wurde bestätigt, dass die unzensierten Dateien bis heute auf der Website zu finden sind und US-Behörden dies nie beanstandet hätten. Auch die beteiligten Medienhäuser sahen sich nach der Veröffentlichung mit keinerlei rechtlichen Konsequenzen konfrontiert – nur Wikileaks wurde zur Rechenschaft gezogen.

Freitag-Herausgeber Jakob Augstein gab unter anderem zu Protokoll, dass Julian Assange sich vor einer Publikation des Freitag im August 2011 telefonisch bei ihm versicherte, dass der Freitag keine Informationen veröffentlichen würde, die Informantinnen oder Informaten gefährden könnten.

Assanges Gesundheitszustand hat sich dramatisch verschlechtert

Zu den alarmierendsten vorgelegten Beweisen zählen die Aussagen medizinischer Expertinnen und Experten, die seinen körperlichen und psychischen Gesundheitszustand beschrieben. Professor Michael Kopelman betonte die schwerwiegende Depression und Posttraumatische Belastungsstörung Assanges, die damit zusammenhängenden Suizidgedanken, Halluzinationen, Angstzustände und Schlafstörungen. Zudem hob er hervor, dass Assange bei einer Auslieferung an die USA mit hoher Wahrscheinlichkeit versuchen würde, sich selbst zu töten. Die Anklage negierte diese Aspekte zwar nicht, maß ihnen jedoch weniger Gewicht bei. Der Zeuge der Anklage Dr. Nigel Blackwood argumentierte, er glaube, dass Assange seine Suizidimpulse in der US-Haft kontrollieren könne.

Derweil äußerte sich Dr. Sondra Crosby ebenfalls ernsthaft besorgt über Assanges psychische Gesundheit und stimmte einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter, Nils Melzer, zu, der bei Assange bereits Ende 2019 Anzeichen psychologischer Folter und Lebensgefahr festgestellt hatte. Darüber hinaus äußerte sich Crosby auch besorgt über Assanges physische Gesundheit. Aufgrund seiner Osteoporose sei er bei einer Auslieferung an die USA einem erhöhten Risiko von Knochenbrüchen ausgesetzt.

Unter diesen Voraussetzungen war das Bild, dass eine ehemalige Mitarbeiterin der US-Gefängnisbehörde, Maureen Baird, von Assanges möglichen Haftbedingungen in den USA zeichnete, noch erschreckender. Laut Baird würden darunter extrem eingeschränkter menschlicher Kontakt, mögliche Einzelhaft von bis zu 23 Stunden pro Tag, Erholung nur in einer anderen Zelle und nur einmal im Monat Telefonate mit der Familie fallen. Die Verteidigerin Yancey Ellis betonte, Assange würde im Falle einer Auslieferung vermutlich im Alexandria Detention Center inhaftiert werden – derselben Einrichtung, in der die Whistleblowerin im Wikileaks-Fall, Chelsea Manning, einen Suizidversuch unternahm.

Auslieferungsbeschluss vermutlich im Januar 2021

Nach dem Ende der Beweisaufnahme gewährt das Gericht der Verteidigung nun vier Wochen, um ein schriftliches Schlussplädoyer einzureichen. Anschließend hat die Anklage weitere zwei Wochen Zeit, um auf dieses zu antworten. Der Auslieferungsbeschluss soll dann am 4. Januar 2021 um 10 Uhr im Central Criminal Court in einer Anhörung ergehen. Vorher soll Assange noch am 29. Oktober vor dem Westminster Magistrates' Court zu einer letzten Anhörung erscheinen.

RSF wird das Vorgehen im Fall Julian Assange auch in den nächsten Wochen weiterverfolgen. Darüber hinaus wird RSF das Gericht auffordern, seinen Umgang mit unabhängigen Beobachterinnen und Beobachtern zu überdenken.

RSF-Petition zur Freilassung Assanges weiter freigeschaltet

Seit Februar hat RSF weltweit mehr als 100.000 Unterschriften von Unterstützerinnen und Unterstützern gesammelt, die die britischen Behörden auffordern, Assange nicht an die USA auszuliefern – davon knapp 14.000 in Deutschland. Die Petition ist auch nach dem Ende der Beweisaufnahme weiterhin freigeschaltet und kann unterschrieben und geteilt werden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Großbritannien Platz 35, die USA belegen Platz 45 von 180 Staaten.



nach oben