Afghanistan
31.08.2021
Zurückgelassen in Kabul
Mit dem heutigen endgültigen Abzug der US-Armee aus Afghanistan wird die Bedrohungslage für Journalistinnen und Journalisten vor Ort immer größer. Bis zum Ende der Evakuierungsflüge haben es mithilfe von Reporter ohne Grenzen (RSF) sechs besonders gefährdete Medienschaffende mit ihren Kernfamilien außer Landes geschafft, weitaus mehr mussten bislang zurückbleiben. In ihrer Verzweiflung haben einige sich eigenmächtig in Nachbarländer geflüchtet. Da vielen Reporterinnen und Reportern nur noch diese Option bleibt, fordert RSF die Bundesregierung auf, eine Grundsatzentscheidung für Visa für in Drittstaaten gestrandete bedrohte Medienschaffende zu treffen, anstatt weiterhin nach Einzelfällen zu entscheiden.
„Unsere Rettungsaktion für afghanische Medienschaffende ist der größte Kraftakt in der Geschichte unserer Organisation. Wir freuen uns mit jeder Journalistin und jedem Journalisten, die mit unserer Hilfe das Land verlassen konnten. Gleichzeitig sind wir unendlich betroffen, dass wir so vielen noch nicht helfen konnten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die einzige Hoffnung für die noch in Afghanistan zurückgebliebenen Medienschaffenden ist die Aussicht auf eine Zukunftsperspektive: Haben sie eine Chance auf ein Deutschland-Visum? Ist es für sie zu verantworten, sich auf den gefährlichen Weg in ein Nachbarland zu machen? Die Bundesregierung hat die humanitäre Verpflichtung, diese Journalistinnen und Journalisten nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen.“
Rettung über zivile Luftbrücke und US-Militär
RSF hat in den vergangenen zwei Wochen so viele Hilferufe von Medienschaffenden erhalten wie noch nie. Täglich erreichen allein die deutsche Sektion der Organisation Dutzende von Anrufen, Mails und Social-Media-Nachrichten von verzweifelten Journalistinnen, Journalisten oder ihren Angehörigen. RSF hat eine Namensliste mit besonders gefährdeten afghanischen Journalistinnen und Journalisten zusammengestellt und mehrfach aktualisiert an das für Afghanistan verantwortliche Lagezentrum der Bundesregierung geschickt. Zuletzt umfasste die Liste der deutschen Sektion der Organisation rund 90 Namen afghanischer Journalistinnen und Journalisten, 29 von ihnen sind Frauen. Hinzu kommen die Familienangehörigen von fünf in Deutschland lebenden Exiljournalistinnen und -journalisten. Auf der Liste des internationalen Sekretariats von Reporter ohne Grenzen stehen zusätzlich derzeit 67 Journalistinnen und Journalisten.
Der Großteil dieser hochgefährdeten Journalistinnen und Journalisten ist jedoch immer noch in Afghanistan. Über die Bundeswehr gelang einer Journalistin die Ausreise, die allerdings auch selbst enge Verbindungen zur Bundeswehr hatte. Rund eine Handvoll Medienschaffende hat es über andere Wege oder auf eigene Faust geschafft, das Land zu verlassen.
Der größte Erfolg gelang der deutschen Sektion von RSF gemeinsam mit anderen Organisationen im Rahmen der zivilgesellschaftlichen „Luftbrücke Kabul“ in der Nacht zum Sonntag: Fünf Busse mit insgesamt 189 Personen schafften es entgegen aller Erwartungen durch alle Checkpoints in den Kabuler Flughafen und wurden von der US-Armee zunächst nach Doha und Riad ausgeflogen. Unter ihnen waren auch sechs Medienschaffende und ihre Angehörigen, insgesamt 16 Personen.
Ein zweiter Konvoi, in dem sich neun von RSF betreute höchst gefährdete Medienschaffende und ihre Angehörigen befanden, insgesamt 23 Personen, musste allerdings zurückbleiben. Ihnen konnte trotz tagelanger intensivster Bemühungen und mehreren zunächst aussichtsreich erscheinenden Versuchen kein sicherer Zugang zum Flughafen ermöglicht werden. Ihnen bleibt nur, sich in Kabul einen möglichst sicheren Aufenthaltsort zu suchen und auf eine neue Chance zur Ausreise zu hoffen. Das gleiche gilt für die weiteren Dutzenden gefährdeten Journalistinnen und Journalisten und ihre Familien, die ebenfalls auf der von RSF an das Auswärtige Amt übermittelten Liste stehen. Viele von ihnen halten sich in Privathäusern vor den Taliban versteckt, in denen sie nicht mehr lange bleiben können.
Drohungen, Schikanen und Gewalt durch Taliban
Nachdem die Taliban behauptet haben, die Pressefreiheit respektieren zu wollen, häuften sich in den vergangenen zwei Wochen die Berichte über Drohungen, Schikanen und Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan. Auch ist die Zukunft der in den vergangenen 20 Jahren entstandenen lebendigen und durchaus pluralen Medienlandschaft Afghanistans mit Dutzenden TV- und Radiosendern und nahezu 200 Printmedien mehr als ungewiss. Seit der Machtübernahme der Taliban haben rund 100 private Lokalmedien insbesondere in den Provinzen fernab der Hauptstadt ihre Arbeit eingestellt. Alle lokalen Büros des privaten Fernsehsenders Tolonews TV wurden geschlossen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten.
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