Türkei 10.05.2023

Erdogan verfolgt Journalisten auch im Exil

Präsident Recep Tayyip Erdogan
Präsident Recep Tayyip Erdogan © picture alliance / EPA | NECATI SAVAS

Sie werden bedroht, physisch angegriffen und in Abwesenheit zu Haftstrafen verurteilt, sie können ihre Pässe nicht mehr verlängern oder geraten auf die Fahndungsliste von Interpol: Türkische regierungskritische Journalistinnen und Journalisten fürchten auch im Exil weiter um ihre Sicherheit. Die Behörden unter Präsident Recep Tayyip Erdogan, der bei den Wahlen an diesem Wochenende eine weitere Amtszeit anstrebt, setzen eine ganze Reihe von Methoden ein, um türkische Medienschaffende im In- und Ausland zu verfolgen. Reporter ohne Grenzen (RSF) fordert ein Ende dieser systematischen Einschüchterung

„Die Türkei braucht ein neues politisches Klima, das die Rechte von Medienschaffenden und die Pressefreiheit sowohl im Land selber als auch im Ausland respektiert“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir fordern die künftige Führung der Türkei auf, die seit Jahren anhaltenden, unerträglichen Schikanen gegen türkische Journalistinnen und Journalisten im Exil zu beenden.“

Mehrere hundert regierungskritische Medienschaffende aus der Türkei leben in europäischen Ländern im Exil, in Deutschland insbesondere in Berlin und Köln. An Beispielen für die aggressive Methoden, mit denen die türkischen Behörden sie auch dort weiter verfolgen, mangelt es nicht. Unter den Betroffenen ist etwa der Journalist Akin Olgun, dem nach einem Prozess im Jahr 1995 politisches Asyl im Vereinigten Königreich gewährt wurde und der heute sowohl die britische als auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt.

Olgun wurde nach seiner Festnahme auf der griechischen Insel Kos am 13. Oktober 2022 mehr als einen Monat lang in Präventivhaft gehalten, weil die türkischen Behörden einen Interpol-Fahndungsaufruf („Red Notice“) beantragt und seine Auslieferung gefordert hatten. Sein angebliches Verbrechen: Olgun hatte in sozialen Medien die Information geteilt, dass der Schwiegersohn von Präsident Erdogan, Berat Albayrak, nach seinem Rücktritt als Finanzminister nach London gezogen war. RSF hatte auch in Zusammenhang mit anderen Ländern bereits über den Missbrauch der Fahndungsaufrufe von Interpol durch repressive Regierungen berichtet. 

In Abwesenheit zu jahrelanger Haft verurteilt

Auch die seit mehreren Jahren andauernde Verfolgung von Can Dündar veranschaulicht, mit welch vielfältigen Methoden die türkischen Behörden versuchen, kritische Journalistinnen und Journalisten mundtot zu machen. Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet war im November 2015 inhaftiert worden. Die Zeitung hatte Fotos und ein Video veröffentlicht, die eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien nahelegen. Während des Prozesses hatte ein Attentäter in einer Pause mehrere Schüsse auf Dündar abgegeben, den Journalisten aber verfehlt. Dündar lebt seit Sommer 2016 im Exil in Deutschland. Er gründete dort die türkischsprachige Nachrichtenseite Özgürüz („Wir sind frei“).

Ende Dezember 2020 verurteilte ihn ein Gericht in Abwesenheit zu mehr als 27 Jahren Haft. Die Justiz wirft ihm vor, „Informationen über den Staat zum Zweck der politischen oder militärischen Spionage beschafft“ sowie „die illegale Organisation von Fethullah Gülen unterstützt“ zu haben. Die türkischen Behörden betrachten Gülen als Drahtzieher des gescheiterten Putsches gegen Erdogan im Juli 2016.

Aber das ist noch nicht alles. Dündar droht eine weitere Gefängnisstrafe, weil er am 1. März 2017 ein Video auf Özgürüz veröffentlicht hat, in dem es um dieselben Waffenlieferungen an Gruppen in Syrien geht. Ihm droht zudem eine lebenslange Haftstrafe im Zusammenhang mit der angeblichen „Unterstützung der Massendemonstrationen im Gezi-Park“ in Istanbul im Frühjahr 2013. Seit September 2022 laufen gegen ihn außerdem Ermittlungen wegen „Beleidigung des Präsidenten“ in einem Kommentar auf YouTube.

Gewalt gegen Exiljournalist

Im Juli 2021 griffen drei mit Messern bewaffnete Männer den regierungskritischen türkischen Journalisten Erk Acarer auf dem Hof seines Mehrfamilienhauses in Berlin an. Seine Verletzungen mussten im Krankenhaus behandelt werden. Acarer berichtete damals auf Twitter, dass er die Täter kenne und diese ihm gesagt haben, er solle nicht wieder schreiben. Die Täter wurden nicht identifiziert, es wird jedoch vermutet, dass es sich um Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP handelte.

Acarer ist ehemaliger Kolumnist der linken Tageszeitung BirGün und arbeitete in der Türkei für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, darunter Cumhuriyet, Sabah, Habertürk und Milliyet. Aufgrund seiner kritischen Berichterstattung war er in der Türkei immer wieder bedroht worden. Der Journalist ist 2017 mit einem RSF-Nothilfe-Stipendium nach Deutschland gekommen und lebt seitdem im Exil in Berlin.

In den vergangenen Jahren gab es auch in Schweden physische Angriffe auf dort lebende türkische Journalistinnen und Journalisten, denen die türkischen Behörden vorwerfen, der Bewegung von Fethullah Gülen anzugehören.

Diplomatischer Druck und Erpressung

Auch Ragip Zarakolu, Schriftsteller und Kolumnist der linken Tageszeitung Evrensel, sorgt sich um seine Sicherheit. Der Name des seit 2012 in Schweden lebenden Journalisten steht auf einer Liste von „Terroristen“, deren Auslieferung die türkische Regierung im Gegenzug für die Aufhebung ihres Vetos gegen den schwedischen NATO-Beitritt fordert. Bevor er aus der Türkei floh, wurde Zarakolu wegen Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angeklagt. Im Dezember 2019 ordnete ein türkisches Gericht die „teilweise Beschlagnahme“ seines Eigentums an, um ihn zur Rückkehr zu zwingen.

Ende 2011 saß Zarakolu in der Türkei bereits für fünf Monate im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied im September 2020, dass die Inhaftierung „willkürlich“ war. Die türkischen Behörden werfen dem Journalisten zudem vor, auf der Nachrichtenseite Arti Gerçek den Putschversuch von 2016 gelobt und Präsident Erdogan bedroht zu haben. Das Medium wurde von in Deutschland ansässigen türkischen Journalistinnen und Journalisten ins Leben gerufen.

Ins Asylverfahren gezwungen

Viele in Europa lebende türkische Medienschaffende haben RSF berichtet, dass die türkischen Behörden ihnen konsularische Dienstleistungen wie Reisepassverlängerungen verweigern, wenn gegen sie in der Türkei ein Gerichtsverfahren läuft oder ein Haftbefehl vorliegt. Infolgedessen waren einige Journalistinnen und Journalisten gezwungen, politisches Asyl zu beantragen. Unter ihnen ist Fehim Tastekin, ein bekannter Nahost-Experte und Kolumnist der Nachrichtenseite GazeteDuvar, der seit Januar 2017 im Exil in Frankreich lebt.

Dutzende andere Medienschaffende wie Kutlu Esendemir, Baransel Agca, Metin Cihan und Ertugrul Mavioglu müssen seit Jahren im Ausland leben, da sie in der Türkei auf vielfältige Weise bedroht und eingeschränkt werden.

Wie das aussehen kann, zeigt beispielhaft der Fall von Bülent Mumay. Vor einer Woche verurteilte ein Gericht in Istanbul den Journalisten zu einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung, nachdem er sich auf Twitter der von einem regierungsnahen Bauunternehmen erwirkten Zensur widersetzt hat. Mumay arbeitet in der Türkei unter anderem für die Deutsche Welle und die FAZ.

Auf der neuen Rangliste der Pressefreiheit hat sich die Türkei um 16 Plätze verschlechtert und belegt nun Rang 165. Mindestens 32 Medienschaffende sitzen dort wegen ihrer Arbeit im Gefängnis. Kurz vor den Wahlen, die das Ende der 20-jährigen Herrschaft von Erdogan besiegeln könnten, hat der Präsident die Daumenschrauben für die Presse noch einmal angezogen. Neue Anklagen, Massenverhaftungen und das „Desinformationsgesetz“ sind nur einige Beispiele. 



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