BND-Massenüberwachung 11.01.2021

Fragen und Antworten zur EGMR-Beschwerde

Außenansicht vom Gebäude des EGMR in Straßburg.
Das Gebäude des EGMR in Straßburg. © picture alliance / Uta Poss

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird sich mit einer Beschwerde von Reporter ohne Grenzen gegen die strategische Fernmeldeüberwachung des Bundesnachrichtendienstes befassen. Um welche Art von Überwachung geht es dabei? Warum glaubt RSF, davon betroffen zu sein? Und wie unterscheidet sich dieser Fall von der Verfassungsbeschwerde gegen BND-Überwachung, der das Bundesverfassungsgericht 2020 stattgab?

Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Beschwerde an den EGMR.

Wogegen richtet sich die Beschwerde von Reporter ohne Grenzen?

Reporter ohne Grenzen wirft dem Bundesnachrichtendienst (BND) vor, im Zuge seiner strategischen Fernmeldeüberwachung den E-Mail-Verkehr der Organisation mit ausländischen Partnerinnen, Journalisten und anderen Personen ausgespäht zu haben. Nach Auffassung von RSF hat der deutsche Auslandsgeheimdienst die Betroffenen damit in mehreren Grund- und Menschenrechten gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Konkret wirft RSF dem BND Verletzungen von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und Korrespondenz), Artikel 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) und Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der EMRK vor.

Eine Kernfrage des Verfahrens ist die mutmaßliche Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht haben 2016 bzw. 2017 Beschwerden von Reporter ohne Grenzen gegen die BND-Massenüberwachung sowie gegen die Ablehnung der entsprechenden Klage zurückgewiesen. Sie begründeten dies damit, die Organisation habe nicht glaubhaft dargelegt, dass sie konkret von der Überwachung betroffen sei. RSF und seine Rechtsvertreter argumentieren in ihrer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass sie dies gar nicht leisten konnten, weil die strategische Überwachung geheim stattfindet und der BND die Betroffenen auch im Nachhinein nur selten informiert. Dadurch sieht sich RSF der Chance auf einen wirksamen Rechtsschutz beraubt.

Was ist strategische Überwachung?

Die „strategische Fernmeldeaufklärung“ hat nichts mit individuellen Überwachungsmaßnahmen gegen Einzelne zu tun, wie sie der BND zum Beispiel gegen Terrorverdächtige im Ausland einsetzen darf. Bei der strategischen Überwachung durchsucht der BND massenhaft digitale Kommunikation, die er an Internet-Knotenpunkten durch die Telekommunikationsunternehmen ausleiten lässt. Auf diese Weise durchforstet der Geheimdienst Hunderte Millionen von E-Mails mithilfe von Suchbegriffen wie Mailadressen oder inhaltlichen Schlagwörtern nach „nachrichtendienstlich relevanten“ Informationen.

Innerdeutscher E-Mail-Verkehr, auf den der BND als Auslandsnachrichtendienst keinen Zugriff haben darf, wird – soweit technisch möglich – automatisiert herausgefiltert. Kommunikation zwischen Deutschen im Inland und Ausländerinnen und Ausländern im Ausland darf der BND dagegen nach Suchbegriffen filtern und überwachen. Die Voraussetzungen dafür regelt Paragraf 5 des sogenannten G10-Gesetzes.

Gegen diese strategische Überwachungspraxis des BND richtet sich die Beschwerde an den EGMR. RSF sieht darin eine unverhältnismäßige, anlasslose Massenüberwachung, weil das Ausmaß des technischen Zugriffs und die ausufernden Suchkriterien des Geheimdienstes keiner wirksamen Beschränkung unterliegen. Dabei ist die Kommunikation von Medienschaffenden wie auch von anderen Berufsgeheimnisträgern wie Ärzten, Anwältinnen und Pfarrern in Deutschland eigentlich besonders vor Überwachung geschützt, was sich auch in entsprechenden Einschränkungen im G10-Gesetz niederschlägt.

Warum glaubt RSF, von der Überwachung betroffen zu sein?

Durch die strategische Fernmeldeüberwachung sieht die Organisation die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation mit ausländischen Medienschaffenden und Partnern wie Menschenrechtsaktivistinnen und Nichtregierungsorganisationen verletzt, die oft unter großem persönlichen Risiko Informationen recherchieren, die für den BND sehr wahrscheinlich von Interesse sind. Weil sie wegen ihrer Recherchen in ihren Heimatländern verfolgt werden, tauschen sich diese Partnerinnen und Partner auch mit RSF über ihre Arbeit aus.

Ein besonderes Augenmerk des Geheimdienstes gilt zum Beispiel Weltregionen wie Zentralasien und dem Nahen und Mittleren Osten und dort unter anderem den Aktivitäten der jeweiligen Armeen und Geheimdienste. Wenn also investigativ arbeitende Journalistinnen und Journalisten aus Ländern wie Syrien, dem Iran oder Aserbaidschan bei RSF Hilfe suchen, weil sie zu solchen heiklen Themen recherchieren und deshalb von ihren Regierungen verfolgt oder bedrängt werden, passt ihre Kommunikation genau in das Suchraster des BND.

Wie macht RSF seine Vorwürfe plausibel?

Die Zahlen für das Jahr 2013, auf das sich die Beschwerde von RSF bezieht, veranschaulichen das Missverhältnis zwischen der Dimension der Überwachung und ihrer Ausbeute für den Geheimdienst: Aus dem Jahresbericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das für die Aufsicht über die Geheimdienste zuständig ist, lässt sich ableiten, dass der BND 2013 eine Anzahl mindestens in der Dimension von 15 Millionen E-Mails durchforstete. Sehr wahrscheinlich lag die Zahl noch viel höher und betrug eher Hunderte Millionen.

Im fraglichen Jahr durchforstete der BND diese Nachrichten anhand von 12.523 Suchbegriffen. Auf diese Weise filterte er 15.401 E-Mails heraus, die manuell durchgesehen werden mussten. Davon stufte der Geheimdienst letztlich nur118 als „nachrichtendienstlich relevant“ ein. RSF verschickte oder empfing im selben Jahr rund 280.000 Auslands-E-Mails. Angesichts dieser Zahlen hält es die Organisation für sehr wahrscheinlich, dass auch Nachrichten aus ihrem E-Mail-Verkehr in die manuelle Auswertung kamen.

Worin unterscheidet sich dieses Verfahren von der RSF-Beschwerde gegen das BND-Gesetz, über die das Bundesverfassungsgericht im Mai 2020 geurteilt hat?

Vor dem Bundesverfassungsgericht hatte Reporter ohne Grenzen erfolgreich gegen die strategische Überwachung von Kommunikation zwischen Ausländerinnen und Ausländern im Ausland geklagt. Diese ist seit 2017 – nach einer umfassenden Reform infolge der Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden – im BND-Gesetz geregelt. Co-Beschwerdeführer waren dabei mehrere Medienschaffende und Berufsgeheimnisträger. Außerdem unterstützten die Gesellschaft für Freiheitsrechte und mehrere Journalistinnen- und Journalistenorganisationen die Verfassungsbeschwerde.

In seinem Urteil vom 19. Mai 2020 verpflichtete das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung, die gesetzliche Grundlage für die Ausland-Ausland-Fernmeldeüberwachung des BND bis Ende 2021 zu reformieren. Die Bundesregierung hat dazu Anfang Dezember einen Entwurf für eine erneute Reform des BND-Gesetzes vorgelegt, an dem RSF erheblichen Nachbesserungsbedarf sieht.

Im Mittelpunkt des Verfahrens vor dem EGMR in Straßburg stehen dagegen Vorschriften aus dem G10-Gesetz, das Ausnahmen vom Grundrechtsschutz des Fernmeldegeheimnisses gemäß Artikel 10 des Grundgesetzes regelt.

Wie geht das Verfahren jetzt weiter?

Der EGMR lässt nur etwa zwei Prozent der Beschwerden zu, die bei ihm eingehen. Nur in diesen wenigen Fällen muss die Gegenseite also inhaltlich zu den Vorwürfen Stellung nehmen und wird das Gericht ein Urteil fällen. Schon am 9. Dezember 2020 stellte der EGMR der Bundesregierung die Beschwerde zu. Am 4. März endet eine in EGMR-Verfahren übliche Frist zur Suche nach einer gütlichen Einigung. Danach hat die Bundesregierung zwölf Wochen Zeit, sich zu der Beschwerde zu äußern. Ob das Gericht vor seinem Urteil eine mündliche Verhandlung anberaumt, entscheidet es zu einem späteren Zeitpunkt. Nachdem der EGMR Beschwerde nun zugelassen hat, wird er aber in jedem Fall ein Urteil fällen.



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