Russland 20.04.2022

Hetzjagd auf kritische Journalisten

Zeitungen liegen in einem Moskauer Kiosk aus.
Eine Zeitungsauslage in einem Moskauer Kiosk. © picture alliance / dpa /TASS / Vladimir Gerdo

Die russischen Behörden nutzen Verhaftungen, Razzien und Geldstrafen, um Journalistinnen und Journalisten zu schikanieren, denen sie vorwerfen, „falsche Informationen“ über die Aktivitäten der russischen Armee in der Ukraine zu veröffentlichen. Reporter ohne Grenzen (RSF) verurteilt diese Verfolgung ebenso wie die Straflosigkeit von Angriffen auf Medienschaffende.

„Die russischen Behörden betreiben eine regelrechte Hetzjagd, um die wenigen einheimischen Journalistinnen und Journalisten zum Schweigen zu bringen, die es überhaupt noch wagen, entgegen der vorherrschenden Propaganda über den von Russland in der Ukraine angezettelten Krieg zu berichten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir fordern dringend die Aufhebung der Zensur-Gesetze.“

Neuer Fokus auf Lokalmedien

Nachdem sie der unabhängigen Presse, die russlandweit berichtete, den Garaus gemacht haben, nehmen Behörden mit Hilfe der Gesetze zur Kriegszensur nun auch lokale Medien ins Visier. „Der schreckliche Schlag gegen die Medien mit nationaler Reichweite war ein Signal an die lokalen Behörden, nun auch die letzten kritischen Regionalzeitungen zu eliminieren. Vor diesem Hintergrund hoffen wir, dass die deutsche Bundesregierung ihre Ankündigung von Aufenthaltstiteln und Arbeitserlaubnissen für russische Journalistinnen und Journalisten umgehend einlöst“, so Mihr weiter.

Zu den Opfern der neusten Verfolgungswelle gehört beispielsweise Listock, eine kleine Zeitung mit Sitz in Gorno-Altaysk in der westsibirischen Altai-Region, die gerade zu einer Geldstrafe von 300.000 Rubel (3.300 Euro) verurteilt wurde, weil sie in Artikeln die russische Armee „diskreditiert“ hatte. Ihre Redakteurin Olga Komarowa wurde zusätzlich zu einer Geldstrafe von 100.000 Rubel (1.100 Euro) verurteilt. Dies sind keine unbedeutenden Summen für eine kleine Publikation, und weitere Geldstrafen könnten folgen.

Der Eigentümer von Listock, Sergej Michailow, wurde vergangene Woche in Altai inhaftiert. Bereits am Vortag war er in der Nähe von Moskau festgenommen worden, während sein Haus und die Räumlichkeiten der Zeitung durchsucht wurden. Ihm drohen nun bis zu 15 Jahre Gefängnis, weil er in seiner Zeitung „falsche Informationen“ über die russische Armee in der Ukraine veröffentlicht haben soll. Listock hat von Beginn an ununterbrochen über die großangelegte russische Invasion berichtet - unter anderem in einem Interview mit Wolodymyr Selenskyj, Antikriegskolumnen und Berichten über die Kriegsverbrechen von Butscha. Dabei hat die Zeitung wiederholt das Wort „Krieg“ verwendet, obwohl es von der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten ist.

Die Repression folgt einem Muster

Eine ähnliche Abfolge an Ereignissen fand am 13. April in der ostsibirischen Republik Chakassien statt. Die Polizei durchsuchte die Wohnung von Mikhail Afanasyev, dem Herausgeber der lokalen Online-Zeitung Novy Focus, und beschlagnahmte seine Ausrüstung in Reaktion auf einen – inzwischen gelöschten – Artikel. Darin hatte er über die Aktivitäten von Soldaten aus Chakassien in der Ukraine berichtet und dass die russische Bereitschaftspolizei sich weigerte, in die Ukraine zu gehen. Afanasyev wird aktuell in der Republikhauptstadt Abakan festgehalten und wartet auf seinen Prozess.

In der südsibirischen Stadt Prokopjewsk steht Andrej Nowaschow, Korrespondent von Sibir.Realii, dem lokalen Ableger von Radio Free Europe/Radio Liberty, seit dem 22. März unter Hausarrest, weil er im russischen sozialen Netzwerk Vkontakte ein Video über die Angriffe der russischen Armee auf die ukrainische Stadt Mariupol geteilt hat, das angeblich „falsche Informationen“ beinhalte.

In Kudymkar in der Region Perm wurde die Redakteurin von Parma-Novosti, Yana Yanovskaya, am 30. März zu einer Geldstrafe von 50.000 Rubel (550 Euro) verurteilt, weil sie in einem Antikriegsartikel die Streitkräfte „diskreditiert“ hatte. Gegen Isabella Evloyeva, Redakteurin von Fortanga, der einzigen unabhängigen Nachrichten-Webseite der Kaukasusrepublik Inguschetien, wurde am 25. März ein Verfahren eingeleitet, weil sie in einem Telegrampost geschrieben hatte, der Buchstabe Z, der auf russischen Panzern in der Ukraine verwendet wird, sei "gleichbedeutend mit Aggression, Tod, Schmerz und unverschämter Manipulation". Weitere Medienschaffende wurden in der südwestlichen Stadt Elista, im Kemerowo (in Ostsibirien) und in der Oblast Swerdlowsk (im Ural) verurteilt.

Die Grundlage der Verfolgung

Nach einer Gesetzesänderung vom 4. März kann jede russische oder ausländische Person zu bis zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt werden, wenn sie „falsche Informationen“ über die russischen Streitkräfte verbreitet. Viele unabhängige Medien wie Novaya Gazeta, The Bell, Taiga.info, VPost und Prospekt Mira reagierten daraufhin mit der Ankündigung, ihre Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine einzustellen und frühere Berichte darüber zu löschen, um ihre Journalistinnen und Journalisten vor Strafverfolgung zu schützen. Nach einem weiteren, am 22. März verabschiedeten Gesetz werden „falsche Informationen“ über die Aktivitäten „russischer Staatsorgane“, die im Ausland tätig sind - einschließlich Präsidenten, der Exekutive, des Parlaments, der Nationalgarde und des Inlandsgeheimdiensts der Russischen Föderation (FSB) – ebenfalls mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft.

Umgekehrt herrscht bei Angriffen auf Medienschaffende ein Klima der Straffreiheit. Ein Beispiel dafür ist der Fall des Redakteurs der Nowaja Gaseta und Friedensnobelpreisträgers Dmitri Muratow. Er wurde am 7. April im Zug von Moskau nach Samara von einem Mann angegriffen, der ihn mit einer Mischung aus roter Farbe und Aceton besprühte. Nach der eigenen Untersuchung des Vorfalls prangerten die Mitarbeitenden der Zeitung die Untätigkeit der Polizei an.

Wie RSF betroffene Medien unterstützt

Die von Zensur beherrschte Atmosphäre, in der die meisten Medien blockiert oder zur Schließung gezwungen wurden und Journalistinnen und Journalisten, die sich frei äußern, bedroht werden, führt zu einer massiven Abwanderung von Medienschaffenden. Gemeinsam mit Partnern betreibt RSF den JX Fund, einen europäischen Fonds für Journalismus im Exil. Dieser bündelt und vermittelt Hilfsangebote und Spenden für diejenigen, die ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen müssen. Zu den ersten Medien aus Russland, die der JX Fund unterstützt, gehören die Nowaja Gaseta Europe und zwei weitere Projekte, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich genannt werden.

Darüber hinaus ermöglicht die Operation Collateral Freedom, Zensur zu umgehen. So hat RSF diesen Montag den Zugang zur Webseite von Radio France Internationale wiederhergestellt, der wenige Stunden zuvor von der russischen Medien- und Telekommunikations-Aufsichtsbehörde Roskomnadsor blockiert worden war.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine auf Platz 97, Russland auf Platz 150 von 180 Staaten.



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