Ukraine / Usbekistan / Türkei 01.10.2017

Interpol muss politischen Missbrauch abstellen

© picture alliance / AP Photo

Reporter ohne Grenzen fordert die internationale Polizeiorganisation Interpol zu schnellen Reformen auf, um den zunehmenden Missbrauch ihrer Fahndungsaufrufe durch repressive Regierungen zu verhindern. Jüngste Anlässe sind die Fälle des türkischen Exil-Journalisten Can Dündar und des in der Ukraine inhaftierten usbekischen Journalisten Narsullo Achunschonow. Achunschonow wird aufgrund eines Interpol-Fahndungsaufrufs seit seiner Ankunft in der Ukraine festhalten, wo er wegen der Verfolgung in seiner Heimat politisches Asyl beantragen wollte. Ihm droht die Abschiebung nach Usbekistan, wo Folter an Häftlingen verbreitet ist. Gegen Dündar hat ein Staatsanwalt in Diyarbakir beim türkischen Justizministerium einen Interpol-Fahndungsaufruf (Red Notice) beantragt.

„Repressive Regime wie Usbekistan und die Türkei missbrauchen Interpol immer öfter und immer schamloser, um ihre Kritiker selbst im Exil zu verfolgen. Die ukrainische Regierung muss endlich erklären, wie sie sich zu dem Auslieferunsersuchen Usbekistans für Narsullo Achunschonow verhalten will“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Niemand sollte in ein Land ausgewiesen werden, in dem ihm ein unfairer Prozess oder gar Folter drohen, und kein kritischer Journalist sollte wegen eines willkürlichen Fahndungsaufrufs bei jeder Auslandsreise in ständiger Angst vor Verhaftung leben müssen. Interpol darf sich nicht zum Handlanger autoritärer Regime bei der Verfolgung unliebsamer Journalisten machen lassen. Die Organisation muss ihre begonnenen Reformen dringend vorantreiben, um sich vor solchem Missbrauch zu schützen.“

Politisch motivierte Fahndungsaufrufe werden seit Jahren kritisiert

Reporter ohne Grenzen kritisiert seit langem die Manipulation von Interpol zur Verfolgung politischer Gegner, insbesondere seit der Wahl des Chinesen Meng Hongwei zum Präsidenten der Polizeiorganisation. In seiner Zeit als stellvertretender chinesischer Minister für öffentliche Sicherheit wurden seinem Ministerium schwere Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und willkürliche Inhaftierungen vorgeworfen. Die Zahl der Interpol-Fahndungsaufrufe hat sich innerhalb eines Jahrzehnts fast verfünffacht – von 2804 im Jahr 2006 auf 12.878 im Jahr 2016. Nur sehr selten lehnt die Organisation es ab, Fahndungsaufrufe zu verbreiten.

Nach anhaltender Kritik zivilgesellschaftlicher Gruppen begann Interpol 2015, ihre Verfahrensvorkehrungen gegen Missbrauch zu stärken. Dennoch bleibt der Reformbedarf groß. Im April forderte die Parlamentarische Versammlung des Europarats Interpol in einer Resolution auf, „ihr Red-Notice-Verfahren weiter zu verbessern, um Missbrauch noch wirksamer zu verhindern und abzustellen“.

Für Aufsehen sorgten jüngst die Fälle des schwedisch-türkischen Journalisten Hamza Yalcin und des deutsch-türkischen Schriftstellers Dogan Akhanli, die in Spanien aufgrund von Interpol-Fahndungsaufrufen festgenommen wurden. Während Akhanli zwar auf freiem Fuß ist, Spanien aber vorerst nicht verlassen darf, kam Yalcin am Donnerstag nach 25 Tagen Auslieferungshaft frei; tags darauf beschloss die Regierung, ihn nicht an die Türkei auszuliefern.

Ähnliche Fälle gab es in der Vergangenheit beispielsweise aufgrund von Fahndungsaufrufen Kambodschas, Sri Lankas und der Malediven. Deutschland nahm 2015 den Al-Dschasira-Journalisten Ahmed Mansur auf Betreiben Ägyptens kurzzeitig fest. Mitte August wurde der oppositionelle ägyptische Journalist Abulrahman Ess offenbar ebenfalls aufgrund eines Interpol-Fahndungsaufrufs mehrere Stunden am Flughafen Berlin-Schönefeld festgehalten.

Achunschonow fürchtete um sein Leben, floh in die Ukraine

Narsullo Achunschonow wurde am 20. September am Flughafen Kiew verhaftet. Er reiste zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern aus der Türkei ein, um politisches Asyl zu beantragen. Ein Gericht in Kiew hat inzwischen angeordnet, ihn zunächst für 40 Tage in Untersuchungshaft festzuhalten; sein Anwalt hat dagegen Berufung eingelegt. Die usbekischen Behörden ermitteln seit 2013 gegen Achunschonow wegen des Vorwurfs, er habe sich 2009 durch Betrug 2000 Dollar angeeignet. Achunschonow bestreitet die Vorwürfe.

In seiner Heimat arbeitete Achunschonow jahrelang als Journalist für die staatliche Fernseh- und Rundfunkanstalt. Von 2013 an versuchten die Behörden, ihn einzuschüchtern - offenbar zum Teil als Reaktion auf seine Recherchen zum Fall eines prominenten Sportlers, der zum Opfer fingierter Betrugsvorwürfe geworden war. Zwei Jahre zuvor hatte Achunschonow Stellung für zwei Kollegen bezogen, die öffentlich Korruption und Zensur beim staatlichen Rundfunk angeprangert hatten. Außerdem arbeitete er mehrmals für den usbekischen Dienst der BBC zu politischen und sozialen Themen.

Nach zunehmenden Drohungen gegen ihn und seine Familie floh Achunschonow im November 2013 ins Ausland und fand zunächst in der Türkei Zuflucht. Die Einschüchterungsversuche gingen dort jedoch weiter: Er erhielt Drohanrufe, wurde verfolgt und zu Hause besucht. Aus Angst um sein Leben entschied er sich schließlich, mit seiner Familie die Türkei zu verlassen und in der Ukraine Asyl zu beantragen.

Usbekistan steht seit Jahren auf einem der schlechtesten Plätze der Rangliste der Pressefreiheit – derzeit auf Platz 169 von 180 Ländern weltweit. Die usbekische Regierung hat ein Nachrichten- und Informationsmonopol. Wer dennoch versucht, als Journalist unabhängig zu arbeiten, muss mit sehr schweren Repressalien rechnen. Die verbreitete Folter in Usbekistans Gefängnissen ist vielfach dokumentiert.

Dündar als vermeintlicher PKK-Propagandist gesucht

Ihre Fahndung nach Can Dündar begründet die Staatsanwaltschaft Diyarbakir mit dem Vorwurf, der  ehemalige Chefredakteur der traditionsreichen unabhängigen türkischen Zeitung Cumhuriyet habe Propaganda für die verbotene kurdische Untergrundorganisation PKK betrieben. Der Vorwurf stürzt sich auf eine Rede, die Dündar am 24. April 2016 in Diyarbakir hielt. Darin kritisierte er Schikanen gegen kritische Journalisten und warf regierungstreuen Journalisten vor, sie machten sich zu Komplizen von Kriegsverbrechen, indem sie den Einsatz des Militärs in den Kurdengebieten unterstützten.

Auch wenn Dündar in seinem Exil-Land Deutschland kaum Gefahr laufen dürfte, verhaftet zu werden, müsste er bei einem Interpol-Fahndungsaufruf künftig bei jeder Auslandsreise das Risiko einer Festnahme im jeweiligen Zielland abwägen.

In der Türkei wurde Dündar im Mai 2016 in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, weil er durch seine Berichterstattung über Waffenlieferungen des Geheimdienstes an Islamisten in Syrien Staatsgeheimnisse verraten habe. Vor dem Gerichtsgebäude wurde er Ziel eines Mordversuchs. Im Sommer 2016 floh der Journalist nach Deutschland. Dündar ist auch in dem derzeit laufenden Prozess gegen insgesamt 18 Cumhuriyet-Mitarbeiter angeklagt, denen die Staatsanwaltschaft unter anderem angebliche Unterstützung der mittlerweile als „terroristisch“ verbotenen Organisation des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorwirft.

Laut der unabhängigen türkischen Medienplattform P24 sitzen derzeit rund 170 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Damit ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Medienschaffenden weltweit. Rund 130 Medien bleiben geschlossen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 155. In den vergangenen zwölf Jahren hat sich das Land um insgesamt 57 Plätze verschlechtert.



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