Kolumbien 12.05.2021

Journalisten vor Gewalt bei Protesten schützen

Polizisten verhaften einen Mann.
Polizisten nehmen bei Protesten gegen die Regierung in Cali, Kolumbien, einen Demonstranten fest © Luis ROBAYO / AFP

Reporter ohne Grenzen beobachtet mit großer Sorge die jüngste Eskalation der Gewalt gegen Medienschaffende sowie die Einschränkungen des freien Informationsflusses in Kolumbien. Seit Beginn der landesweiten Proteste am 28. April mit Dutzenden Toten gab es mindestens 140 Übergriffe gegen Journalistinnen und Journalisten, die über diese Proteste berichteten. Ein Großteil davon waren gewalttätige Attacken seitens der Sicherheitskräfte.

„Die kolumbianische Bevölkerung kann sich nur ein eigenes Bild von der Gewalt bei den landesweiten Protesten machen, wenn Journalistinnen und Journalisten ungehindert davon berichten können. Dass die Sicherheitskräfte sie wiederum mit Gewalt davon abhalten und in die Selbstzensur treiben, ist zynisch und fatal“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die kolumbianischen Behörden sind in der Pflicht, Journalistinnen und Journalisten ein sicheres Arbeiten zu ermöglichen. Dafür müssen die Sicherheitskräfte entsprechend instruiert werden, die Berichterstattenden vor möglichen Attacken zu schützen, anstatt sie selber anzugreifen. Auch muss die Regierung ein Zeichen setzen, indem sie die Gewalt öffentlich verurteilt und null Toleranz gegenüber künftigen Gewalttaten verkündet.“

Systematische Angriffe sollen Medienschaffende einschüchtern

Laut Kolumbiens Ombudsmann für Menschenrechte sind in dem Land seit dem 28. April mindestens 41 Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden. In dieser Zeit haben RSF und die kolumbianische Stiftung für Pressefreiheit FLIP mindestens 140 Übergriffe gezählt. Weitere Fälle sind den Organisationen bekannt, aber noch nicht verifiziert. Allein in der ersten Woche der Proteste waren es mindestens 75 Übergriffe auf 85 Medienschaffende, darunter 30 allein physische Angriffe. Zudem wurden Medienschaffende in ihrer Arbeit behindert, Ausrüstung wurde entwendet oder zerstört sowie journalistische Infrastruktur beschädigt. Aktivitäten in den sozialen Netzwerken wurden willkürlich eingeschränkt und der Zugang zu Informationen wurde verwehrt. Zudem wurden Journalistinnen und Journalisten willkürlich festgenommen, bedroht, belästigt und öffentlich verunglimpft.

Die Angriffe konzentrierten sich in der ersten Woche vor allem auf die Regionen Bogotá, Antioquia, Bogotá, Valle del Cauca, Risaralda und Santander, wo es besonders viele Proteste gab. In knapp zwei Dritteln der Fälle gingen die Übergriffe von staatlichen Akteuren aus, vor allem von der nationalen Polizei und darunter vor allem von der auf Unruhen spezialisierten Einheit ESMAD. Am rabiatesten gingen sie gegen Journalistinnen und Journalisten vor, die Gewalt gegen Demonstrierende dokumentierten.

Nach Einschätzung von RSF und FLIP geschahen diese Angriffe systematisch und gezielt, um Angst unter den Medienschaffenden zu säen und sie zur Selbstzensur zu bewegen. Viele Journalistinnen und Journalisten wurden attackiert, obwohl sie Westen und Helme mit der Aufschrift „Presse“ trugen. Mindestens einem Journalisten wurde in den Helm geschossen, zudem gaben verschiedene Berichterstattende an, mit Blendgranaten, Tränengas, Gummigeschossen und einer Schrotflinte beschossen worden, beleidigt worden, willkürlich festgenommen und von motorisierten Sicherheitskräften in die Enge getrieben worden zu sein.

Am 6. Mai wurden beispielsweise drei Journalisten von dem lokalen alternativen Online-Medium Loco Sapiens von der Polizei mit Gummigeschossen attackiert, als sie von einem Protest in der Kleinstadt Sibaté nahe der Hauptstadt Bogotá berichteten. Die ESMAD-Beamten schossen direkt auf die Journalisten, obwohl diese ihre Arme hoben und laut riefen, dass sie Pressevertreter seien. Auch sie trugen Helme mit der Aufschrift „Presse“ sowie Presseausweise. Zwei der drei wurden verletzt.

Die kolumbianische Regierung distanzierte sich bislang nicht von der Gewalt – ein Muster, das sich bereits nach den Protesten des Jahres 2019 beobachten ließ.

Medienschaffende kommen nur schwer an offizielle Informationen

Medienschaffende haben zudem Schwierigkeiten, an offizielle Zahlen zu den Protesten zu gelangen, beispielsweise zur Anzahl der Menschen, die im Zusammenhang mit den Demonstrationen getötet, angegriffen oder inhaftiert wurden. So erhielten Regionalzeitungen keine Zahlen, weil die entsprechenden Informationen nur auf nationaler Ebene herausgegeben wurden.

Viele Informationen über die Proteste werden über die sozialen Netzwerke verbreitet, sowohl von professionellen Medienschaffenden als auch von Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten sowie von einfachen Internetnutzerinnen und -nutzern – gerade wenn keine professionellen Medien vor Ort sind. Auch sie wurden vielfach Opfer von Gewalt, zudem warfen offizielle Stellen wie der Generalkommandant der Streitkräfte ihnen Manipulation und Desinformation vor.

Auch wurde während der Proteste der Internetempfang unterbrochen, beispielsweise in der Stadt Cali, wie die internationale NGO Netblocks bestätigte. Anbieter Movistar gab indes an, dass Unbekannte die Anlagen beschädigt hätten, und sprach von Vandalismus.

Gemeinsam mit IFEX-ALC, dem regionalen Netzwerk der Meinungsfreiheitsorganisation IFEX in Lateinamerika und der Karibik mit 24 Mitgliedsorganisationen, sowie dem Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hat sich RSF in der vergangenen Woche mit einem offenen Brief an Kolumbiens Präsidenten Iván Duque sowie seinen Innenminister, die Generalstaatsanwältin und den Polizeipräsidenten von Kolumbien gewandt. Darin forderten sie unter anderem, die Sicherheitskräfte anzuweisen; die Gewalt umgehend zu beenden; die begangenen Übergriffe auf Medienschaffende öffentlich zu verurteilen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen; einen freien Fluss von Informationen auch im Internet und speziell in den sozialen Netzwerken zuzulassen; sowie für Transparenz bei staatlichen Stellen zu sorgen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Kolumbien auf Platz 134 von 180.



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