Ukraine-Krieg 29.03.2022

Reporter werden getötet, misshandelt, entführt

In Kyjiw legt der Daily-Mail-Journalist Richard Pendlebury Blumen an der Stelle nieder, an der die Journalistin Oksana Baulina getötet wurde. © picture alliance / dmg media Licensing | Jamie Wiseman

Seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar sind in der Ukraine zwei ukrainische und drei ausländische Journalistinnen und Reporter bei ihrer Arbeit getötet worden. Reporter ohne Grenzen (RSF) fordert die russischen und ukrainischen Behörden auf, die Sicherheit der Medienschaffenden in der Ukraine zu gewährleisten. Die russischen Streitkräfte haben in den vergangenen fünf Wochen absichtlich auf mindestens acht Berichterstattende oder Medienteams geschossen. RSF hat deshalb am 25. März beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) erneut Beschwerde gegen die russischen Streitkräfte eingereicht – bereits die dritte seit Beginn des Krieges.

„Ein Viertel der seit Jahresbeginn weltweit getöteten Medienschaffenden sind während des Krieges in der Ukraine ums Leben gekommen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Ihre Berichterstattung ist für das Verständnis des Krieges unerlässlich. In Konflikten sind Journalistinnen und Journalisten durch das Völkerrecht geschützt. In mehreren Fällen hat die russische Armee Berichterstattende jedoch bewusst und gezielt beschossen. Das sind Kriegsverbrechen. Wir werden dafür kämpfen, dass diese Fälle untersucht, verfolgt und bestraft werden.“

Das jüngste Opfer war eine der wenigen russischen Journalistinnen in der Ukraine, Oksana Baulina. Sie wurde am 23. März in der Hauptstadt Kyjiw von einer „Kamikaze-Drohne“ getötet – einer mit Sprengstoff bestückten Kampfdrohne. Das teilte das inzwischen in Lettland ansässige russische Online-Medienportal The Insider mit, für das Baulina arbeitete.

Die Journalistin hatte über die Schäden berichtet, die bei einem Angriff auf ein Einkaufszentrum in Podil, einem Vorort von Kyjiw, entstanden waren. Aus Sicherheitsgründen wurde sie von zwei Polizeibeamten begleitet, die bei dem Anschlag verletzt wurden. Oksana Baulina hatte vor kurzem Interviews mit russischen Soldaten geführt, die von der ukrainischen Armee in Lwiw gefangen genommen worden waren. Die Interviews wurden noch nicht veröffentlicht.

Fünf getötete, mindestens elf verletzte Medienschaffende

Am 14. März wurden zwei Journalisten getötet, als ein Team des US-Fernsehsenders Fox News in Horenka nahe Kyjiw unter Artilleriefeuer geraten war. Der erfahrene irische Kriegsreporter und Kameramann Pierre Zakrzewski, 55, und Oleksandra Kuwschynowa, eine 24-jährige ukrainische Reporterin starben. Der britische Journalist Benjamin Hall erlitt bei demselben Angriff durch Granatsplitter schwere Verletzungen an den Beinen.

Tags zuvor, am 13. März, wurde der 51-jährige US-amerikanische Dokumentarfilmer Brent Renaud getötet. Er hatte in der Vergangenheit mehrfach mit der New York Times zusammengearbeitet. Renaud wurde in Irpin, einer Stadt nordwestlich von Kyjiw, während der Fahrt in seinem Auto in den Nacken geschossen. Sein Begleiter Juan Arredondo, ein US-amerikanisch-kolumbianischer Reporter, wurde verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert. Gemeinsam hatten sie gefilmt, wie Einwohnerinnen und Einwohner von Kyjiw die Hauptstadt in Richtung vermeintlich sichererer Regionen verließen.

Der erste im Krieg getötete Journalist war Jewgeni Sakun, ein ukrainischer Kameramann, der für den lokalen Fernsehsender Kyiv Live TV arbeitete. Er wurde beim Einschlag russischer Raketen in den Kyjiwer Fernsehturm am 1. März getötet.

RSF dokumentiert seit Beginn des Krieges in der Ukraine Angriffe und andere Übergriffe auf Medienschaffende. Neben den fünf getöteten wurden elf weitere Journalistinnen und Reporter durch Schüsse, Raketen oder Artilleriebeschuss verletzt. Vor allem lokale Medienschaffende sind in den besetzten Gebieten zahlreichen Schikanen ausgesetzt.

„Ukrainische Journalistinnen und Journalisten werden bedroht“, sagte Oksana Romaniuk, Direktorin des Instituts für Masseninformation (IMI), der langjährigen RSF-Partnerorganisation in der Ukraine. „Russland will einen Medienblackout schaffen. Sie stellen persönliche Informationen einzelner Journalistinnen und Reporter in ihre Telegram- und sonstigen Kanäle und veröffentlichen dazu Adresse, Passnummer, die Namen der Eltern, und sagen: ‚Wir werden euch holen, und wir werden euch bestrafen, weil ihr Russland kritisiert habt.‘“

Seit dem 12. März betreibt RSF gemeinsam mit dem IMI im westukrainischen Lwiw ein Zentrum für Pressefreiheit. Es dient als Verteilzentrum für schusssichere Westen und Helme, als Schutzraum und digitale und physische Anlaufstelle für Training und Vernetzung. Zudem gibt es in Lwiw einen Anlaufpunkt für geflüchtete ukrainische Journalistinnen und Journalisten, an dem sie vorübergehend unterkommen und Kräfte sammeln können, um ihre Arbeit fortzusetzen. Viele ukrainische Medienschaffende sind zu Kriegsberichterstattenden geworden, ohne dies je geplant zu haben.

Bereits drei RSF-Beschwerden gegen die russischen Streitkräfte beim IStGH

Die jüngste RSF-Beschwerde beim IStGH gegen die russischen Streitkräfte bezieht sich vor allem auf den Fall eines ukrainischen Reporters, der neun Tage lang festgehalten und schwer misshandelt wurde. RSF hat seine Aussagen umfangreich verifiziert und am 21. März dokumentiert.

Der 32-jährige Reporter, der auch als Fixer und Dolmetscher arbeitete, war am 5. März von russischen Truppen entführt und neun Tage lang in einem eisigen Keller festgehalten worden. Er wurde in dieser Zeit mit einer Eisenstange geschlagen, mit Strom gefoltert, ihm wurde die Nahrung vorenthalten und seine Hinrichtung angedroht.

Er war seit 2013 mit Unterbrechungen für ausländische Medien tätig, unter ihnen die französischen Sender France 2, BFMTV und RFI. In den vergangenen Wochen arbeitete er vor allem für Radio France. Als die dortigen Verantwortlichen ihn am 8. März als vermisst meldeten, begann RSF mit der Suche. Am 13. März kam er frei und nahm über das von RSF gegründete Zentrum für Pressefreiheit in Lwiw Kontakt mit der Organisation auf. RSF traf sich mehrmals mit ihm, begleitete ihn zu ärztlichen Untersuchungen, die die schweren körperlichen Misshandlungen bestätigten, insbesondere Blutergüsse und andere Verletzungen aufgrund von Elektroschocks, und war auch anwesend, während er mit seiner Familie sprach.

Auch der ukrainische Journalist Oleg Baturin wurde von der russischen Armee festgehalten und auf ähnliche Weise misshandelt. Er kam am 20. März frei, nach acht Tagen in russischer Gefangenschaft. Baturin sagte: „Sie wollten mich brechen, auf mir herumtrampeln, um mir klar zu machen, was sie mit Journalistinnen und Journalisten machen – dass sie sie töten.“

Die zweite RSF-Beschwerde reichte RSF am 16. März ein. In dieser fordert RSF den Chefankläger des IStGH Karim Khan auf, Verbrechen zu untersuchen, die von den russischen Streitkräften im Zuge des Krieges in der Ukraine gegen Medienschaffende begangen wurden. Mindestens acht Journalisten oder Medienteams wurden von den russischen Streitkräften gezielt angegriffen oder waren Opfer wahlloser Bombardierungen. Nach der ersten Beschwerde, die RSF am 4. März über russische Angriffe auf Sendemäste eingereicht hatte, enthält diese zweite Beschwerde auch Informationen über weitere solcher Angriffe.

Neuer JX Fonds will den Journalismus im Exil stärken

Reporter ohne Grenzen hat Fragen und Antworten für Medienschaffende zusammengestellt, die über den russischen Angriff auf die Ukraine berichten wollen. Derzeit wollen die weitaus meisten ukrainischen Journalistinnen und Journalisten im Land bleiben und ihre Arbeit fortzusetzen. Es ist jedoch zu erwarten, dass einige von ihnen flüchten müssen, je länger der Krieg dauert. Ihnen und allen weiteren Journalistinnen und Journalisten im Exil will der neue JX Fonds dabei helfen, auch im Ausland schnell weiterarbeiten zu können.

Der JX Fonds wurde gemeinsam von RSF, der Rudolf Augstein Stiftung und der Schöpflin-Stiftung ins Leben gerufen. Er fungiert als Schnittstelle, die die zahlreichen Hilfsangebote von Unternehmen, staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Initiativen in Deutschland bündelt und gezielt dorthin weiterleitet, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Er soll unabhängige Medien im Exil auch über die jetzige Phase hoher Aufmerksamkeit hinaus stärken. Derzeit sind es vor allem Medienschaffende aus Russland, Belarus und Afghanistan, die in großer Zahl ins Exil gehen mussten.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt die Ukraine Platz 97 von 180 Staaten.



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