Türkei 16.07.2019

Journalistenverfolgung hält unvermindert an

Erol Önderoglu vor dem Gericht in Istanbul im Jahr 2017. © ROG

Reporter ohne Grenzen (ROG) kritisiert den unverminderten Druck, den Justiz und regierungsnahe Stellen in der Türkei auf Medienschaffende ausüben. In dieser Woche müssen sich in Istanbul eine ganze Reihe von Journalistinnen und Journalisten vor Gericht verantworten, darunter auch der Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoglu. Anfang des Monats hatte das oberste Berufungsgericht die lebenslangen Haftstrafen gegen die Medienschaffenden Ahmet Altan und Nazli Ilicak aufgehoben, Freilassungen aber abgelehnt.

„Die anstehenden Gerichtstermine führen erneut die Härte und Willkür vor Augen, mit denen die türkische Justiz gegen kritische Stimmen und unabhängig Berichterstattende vorgeht“, sagte ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. „Jede Woche stehen in der Türkei Medienschaffende vor Gericht, die nur ihre Arbeit getan haben. Vermeintliche Beweise für Terrorpropaganda oder Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung sind an den Haaren herbeigezogen. Wir fordern Freisprüche für alle Medienschaffenden, die vor Gericht stehen, und die Freilassung aller wegen ihrer Arbeit inhaftierten Journalistinnen und Journalisten.“

Am morgigen Mittwoch geht der Prozess gegen den langjährigen Türkei-Korrespondenten von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoglu, weiter. Bei der Verhandlung (Beginn: 10 Uhr Ortszeit / 9 Uhr MESZ) wird nach fast dreijährigem Prozess ein Urteil erwartet. Die Staatsanwaltschaft wirft Önderoglu sowie seinen Mitangeklagten Sebnem Korur Fincanci und Ahmet Nesin wegen der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. Ihnen drohen bis zu vierzehneinhalb Jahre Haft. Am bisher letzten Prozesstag am 15. April hatte Önderoglu seine Verteidigungsrede gehalten, in der er die Willkür der türkischen Justiz sowie die systematische Einschüchterung von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern sowie Journalistinnen und Journalisten anprangerte.

Ab dem 7. November steht Önderoglu zudem in einem weiteren Verfahren wegen vermeintlicher Terrorpropaganda vor Gericht. Hintergrund ist seine Unterstützung einer Kampagne, die das Vorgehen der türkischen Behörden gegen die Initiative „Academics for Peace“ kritisiert. Darin hatten Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Januar 2016 einen Appell gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung im Südosten der Türkei unterzeichnet.

Prozesse gegen Dutzende Journalisten und Menschenrechtlerinnen

Am heutigen Dienstag hat ein Istanbuler Gericht den Prozess gegen den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel auf den 17. Oktober vertagt. Die Staatsanwaltschaft hat 17 Jahre Haft wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ und „Volksverhetzung“ gefordert. Yücel ist seit seiner Rückkehr nach Deutschland nach einjähriger Haft im Februar 2018 nicht in die Türkei zurückgekehrt. Am 28. Juni urteilte das türkische Verfassungsgericht, dass seine einjährige Untersuchungshaft rechtswidrig war und beanstandete, dass sowohl im Hafturteil als auch in der Anklageschrift zahlreiche Aussagen in Yücels Artikeln für die Zeitung Die Welt fehlerhaft ins Türkische übersetzt worden seien.

Auch der Prozess gegen den Deutschen Peter Steudtner, der 2017 mehr als 100 Tage in der Türkei in Untersuchungshaft saß, sowie zehn weitere Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler wurde heute auf Oktober vertagt.

Am Donnerstag findet ein weiterer Termin in einem Prozess gegen den türkischen Journalisten Can Dündar wegen „Terrorpropaganda“ statt.  Hintergrund ist auch hier die Solidaritätskampagne für Özgür Gündem, an der sich auch Dündar beteiligt hatte. Der frühere Chefredakteur der einst unabhängigen Zeitung Cumhuriyet lebt seit 2016 im Exil in Deutschland. In einem anderen Verfahren wurde er wegen Geheimnisverrats zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt.

Insgesamt laufen gegen Dündar noch rund ein halbes Dutzend Verfahren, darunter eins wegen vermeintlicher Aufstachelung zu den Gezi-Protesten von 2013. In diesem Prozess sind neben Dündar 15 weitere Personen angeklagt, darunter der bekannte Menschenrechtler Osman Kavala, der seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Auch in diesem Prozess ist für Donnerstag ein Termin angesetzt.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, kritisierte nach einer fünftägigen Türkei-Reise Anfang Juli, die vorgebrachten Beweise in Gerichtsverfahren seien manchmal so inkonsistent und willkürlich, dass es in der Türkei quasi unmöglich geworden sei, die juristischen Folgen des eigenen Handelns vorherzusehen. Als Beispiel nannte sie das erwähnte Gezi-Verfahren. Diese Rechtsunsicherheit könne Menschen von legitimer Regierungskritik abhalten.

Die 2018 verhängten lebenslangen Haftstrafen gegen den Journalisten Ahmet Altan und die Journalistin Nazli Ilicak wurden unterdessen am 5. Juli vom obersten Berufungsgericht der Türkei aufgehoben. Die Richter in Ankara entschieden, dass Altan und Ilicak mit Äußerungen zum Putschversuch von 2016 nicht gegen die Verfassung verstoßen, aber von den Plänen gewusst und die Putschisten „wissentlich und willentlich“ unterstützt hätten. Darauf stehen in der Türkei fünf bis 15 Jahre Haft. Einen Antrag auf Entlassung aus dem Gefängnis lehnte das Gericht ab. Ahmet Altans Bruder, der Autor Mehmet Altan, wurde im selben Verfahren freigesprochen. Er war bereits vor einem Jahr vorläufig aus dem Gefängnis entlassen worden.

Regierungsnahe Stiftung stellt Medienschaffende an den Pranger

Auch jenseits der Gerichtssäle ist der Druck auf türkische Medienschaffende unvermindert hoch. Ein am 5. Juli als akademische Studie herausgegebener Bericht der regierungsnahen Stiftung für politische wirtschaftliche und gesellschaftlich Forschung (SETA) wirft sechs von sieben türkischsprachigen Programmen internationaler Medien einen Anti-Erdogan-Bias vor. Türkische Journalistinnen und Journalisten, die für diese Programme arbeiten, werden als vermeintliche Regierungsgegnerinnen und -gegner namentlich sowie mit biografischen Details und Social-Media-Aktivitäten an den Pranger gestellt. Die Berichterstattung über Prozesse gegen Medienschaffende sowie das Teilen von Tweets von ROG sowie von Medien wie Cumhuriyet und Evrensel werden als Beweis für „Anti-Regierungs-Positionen“ bezeichnet.

ROG hatte den Bericht gemeinsam mit 20 weiteren Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert und als Hinweis auf eine neue Eskalationsstufe in der Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten durch die türkische Regierung gewertet. () Die türkische Journalistengewerkschaft TGS, die Media and Law Studies Association (MLSA) sowie der Journalist Fatih Polat haben Beschwerde gegen SETA eingelegt, unter anderem wegen „Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit“ sowie „Speicherung personenbezogener Daten“.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei wie schon 2018 auf Platz 157 von 180 Staaten.



nach oben