Russland
07.03.2022
Etwa 150 Journalisten haben das Land verlassen
Angesichts der sich dramatisch verschlechternden Situation für unabhängige Medienschaffende in Russland appelliert Reporter ohne Grenzen (RSF) an die Bundesregierung, Journalistinnen und Journalisten, die das Land verlassen müssen, unbürokratisch aufzunehmen. Rund 150 russische Medienschaffende sind Angaben des Portals Agentstwo zufolge seit Beginn der Invasion in der Ukraine ins Exil gegangen. Etliche unabhängige Medien haben ihre Arbeit wegen der massiven staatlichen Zensur eingestellt, andere berichten nicht mehr über die Kämpfe in der Ukraine. Die russische Regierung wies staatliche Stellen unterdessen an, möglichst nur noch das nationale russische Domain Name System zu nutzen und Seiten nicht mehr auf Servern im Ausland zu hosten.
„Durch seine drakonischen Zensurmaßnahmen hat der Kreml seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine eine große Zahl unabhängiger Journalistinnen und Journalisten zur Flucht ins Ausland gezwungen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr in Berlin. „Die deutsche Bundesregierung, aber auch die Regierungen benachbarter Staaten müssen diese Medienschaffenden unbürokratisch aufnehmen und ihnen Schutz bieten. Die mutigen Reporterinnen und Reporter, die nach wie vor in Russland arbeiten, versuchen wir zu unterstützen, indem wir unter anderem weitere Server im Anonymisierungsnetz Tor betreiben wollen und unser Engagement hier gerade stark ausbauen.“
Internationale Medien stellen Berichterstattung aus Russland ein
Am vergangenen Freitag (4. März) hatte Wladimir Putin ein Gesetz unterzeichnet, das Medienschaffenden mit 15 Jahren Haft droht, wenn sie Informationen über die Invasion in der Ukraine veröffentlichen, die den Angaben von offiziellen Stellen wie dem Verteidigungsministerium widersprechen. Führende internationale Medien stellten ihre Berichterstattung aus Russland daraufhin ein, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu gefährden: neben ARD und ZDF unter anderem die britische BBC sowie die US-Sender CNN, ABC, CBS News, die Nachrichtenagentur Bloomberg News sowie der kanadische Rundfunk CBC/Radio-Canada.
Die kremlkritische Zeitung Nowaja Gaseta entfernte aufgrund des Gesetzes sämtliche Artikel und Beiträge über den Krieg von ihrer Seite und aus den sozialen Netzwerken. Auch die auf Wirtschaftsthemen spezialisierte Nachrichtenseite The Bell sowie die Portale Republic und It’s My City stellten die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine mit dem Hinweis auf staatliche Zensur ein.
Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat seit dem Angriff auf die Ukraine innerhalb weniger Tage mehr als 30 Nachrichtenseiten aus Russland und der Ukraine blockiert, darunter die Deutsche Welle, den russischen Dienst der BBC, Radio Swoboda (den russischen Dienst von Radio Free Europe/ Radio Liberty) sowie Meduza, die reichweitenstärkste unabhängige Nachrichtenseite in russischer Sprache. RSF hat deshalb das Projekt Collateral Freedom neu aufgelegt, das ständig aktualisierte Kopien gesperrter Nachrichtenseiten in der Cloud großer Serveranbieter ablegt und diese so dem Zugriff der Behörden entzieht.
Rund 150 unabhängige Journalisten verlassen das Land
Etliche unabhängige russische Medien haben ihre Arbeit allerdings inzwischen komplett eingestellt, darunter der Online-Sender Doschd sowie Radio Echo Moskwy. Beide hatte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor bereits am 1. März wegen angeblich falscher Informationen über den Krieg blockiert. Auch die regierungskritische Nachrichtenseite Znak aus Jekaterinburg stellte den Betrieb ein. Der Radiosender Serebrjanny Doschd strich sämtliche Wortbeiträge, ersetzte sie durch Musik und kommentierte auf Telegram: „Wir können nicht mehr reden und wollen nicht lügen.“
Etwa 150 Journalistinnen und Journalisten haben der aus dem Exil betriebenen Nachrichtenseite Agentstwo zufolge Russland seit Beginn der Ukraine-Invasion verlassen, darunter nahezu das gesamte Moskauer Büro der aus Lettland betriebenen Nachrichtenseite Meduza sowie etliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Echo Moskwy, der Nowaja Gaseta oder des Senders Doschd. Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko erklärte am 2. März öffentlich, er sei aus Sicherheitsgründen ausgereist. Michail Fishman, prominenter Moderator des Senders, berichtete am 6. März, ihm sei die Einreise nach Georgien verweigert worden. Auch den russischen Journalisten Ilja Asar sowie Dmitri Gordon aus der Ukraine sollen die georgischen Behörden nicht ins Land gelassen haben.
Freies Internet nur noch über VPN und Tor zugänglich
Angesichts der massiven Internet-Zensur sind Medienschaffende sowie Nutzerinnen und Nutzer in Russland in zunehmendem Maße auf die Nutzung von VPN-Diensten angewiesen, um Sperren zu umgehen und sich vor Überwachung zu schützen. Dabei legen Nutzerinnen und Nutzer die Verantwortung für den Schutz ihrer Daten und ihrer Anonymität weitreichend in die Hände des Anbieters, weshalb bei der Auswahl des Dienstes Vorsicht geboten ist. Aktuelle digitale Sicherheitstipps sowie VPN-Empfehlungen hat die Nichtregierungsorganisation Access Now auf Russisch zusammengestellt. Sie empfiehlt beispielsweise Proton VPN, die auch eine kostenlose Version anbieten. Solche kostenlosen VPN-Anbieter bieten Nutzerinnen und Nutzern eine Alternative, nachdem sich die Kreditkarten-Unternehmen Visa und Mastercard aus Russland zurückgezogen und Finanzdienstleister wie Paypal ihre Geschäfte dort eingestellt haben.
Eine andere Möglichkeit, um Sperren zu umgehen und sich vor Überwachung zu schützen, bietet das Tor-Netzwerk. Zwar ließ die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor Anfang Dezember 2021 die Webseite des Tor-Netzwerks sperren; über sogenannte “Tor Bridges”, zumeist nicht öffentlich gelistete Zugänge, können Menschen in Russland dennoch auf das Netzwerk zugreifen, der Download des Browsers ist über eine “Mirrorseite” zugänglich. RSF betreibt seit 2013 zwei Server im Tor-Netzwerk und baut dieses Engagement aufgrund des massiven Drucks auf unabhängige Medienschaffende in Russland und der Ukraine momentan stark aus.
Diverse Medien sind bereits über Onion-Adressen im Tor-Netzwerk verfügbar, darunter die Deutsche Welle (Englisch), oder BBC News auf Englisch und Russisch. Auch die russische Nichtregierungsorganisation Roskomsvoboda, die gegen Online-Zensur und Überwachung kämpft, veröffentlichte vorsorglich eine Onion-Adresse für den Fall, dass ihre Seite in Russland blockiert wird.
Russische Behörden sollen keine ausländischen Server mehr nutzen
Die russische Regierung wies staatliche Stellen unterdessen an, ab dem 11. März nur noch das nationale russische Domain Name System zu nutzen und Seiten nicht mehr auf Servern im Ausland zu hosten. Außerdem soll die Passwort-Sicherheit verstärkt und zum Beispiel Zwei-Faktor-Authentisierung häufiger genutzt werden. Zur Begründung hieß es aus dem zuständigen Ministerium, man wolle sich so gegen Cyberangriffe schützen.
Die Anfrage der ukrainischen Regierung, Russlands Zugang zum Internet zu blockieren, also etwa sämtliche russischen Domains zu sperren, lehnte die für die Vergabe von Internetadressen zuständige Organisation ICANN unterdessen ab. Die ICANN könne derartige Sanktionen nicht verhängen und müsse den stabilen und sicheren Austausch von Daten weltweit unabhängig von politischen Entwicklungen garantieren, so die Organisation.
Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Rang 150 von 180 Staaten.
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