Regulierung sozialer Medien 19.06.2017

NetzDG: Grundlegend neuer Ansatz nötig

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Reporter ohne Grenzen appelliert an den Bundestag, das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz in seiner aktuellen Form abzulehnen, um Schaden von der Presse- und Meinungsfreiheit abzuwenden. 

„Strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken sind ein reales Problem und sollten gelöscht werden. Aber dieser Gesetzentwurf vermischt ganz verschiedenartige Rechtsprobleme, setzt auf untaugliche Mittel und ist schlecht begründet“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr vor der Anhörung zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen am Montag (19.6.) im Rechtsausschuss des Bundestags, zu der als Sachverständiger geladen ist.

„Soziale Netzwerke sind längst zu wichtigen Werkzeugen der Pressefreiheit geworden. Wer sie regulieren will, muss mit Augenmaß vorgehen, um das Problem der intransparenten und willkürlichen Löschpraktiken von Unternehmen wie Facebook nicht noch zu verschärfen“, sagte Mihr. „Deshalb sollte der Bundestag in der kommenden Legislaturperiode einen grundlegend neuen Anlauf unternehmen, um auf solider Datengrundlage und unter frühzeitiger Einbeziehung der Zivilgesellschaft eine angemessene Regulierung zu entwickeln.“

Die ROG-Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD steht online zum Download bereit. Weitere Materialien zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) wie die kritischen Stellungnahmen des UN-Sonderberichterstatters für Meinungsfreiheit, David Kaye, und des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags sind ebenfalls auf der ROG-Webseite abrufbar.

Soziale Netzwerke haben großes Freiheitspotenzial

Soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube und Twitter sind heute wichtige Recherche- und Verbreitungswegen für Journalisten. In Ländern wie China, der Türkei oder Vietnam ermöglichen sie es Journalisten, die umfassende Zensur traditioneller Medien zu umgehen und neue Kanäle zu finden, um trotz staatlicher Restriktionen unabhängige Informationen zu verbreiten. Manche Nachrichtenportale publizieren nur oder vor allem auf solchen Plattformen. Auch in Deutschland sind Medienhäuser und Journalisten auf soziale Plattformen angewiesen, um neue Verbreitungswege zu entwickeln und trotz veränderter Gewohnheiten der Mediennutzung ihr Publikum zu erreichen.

Dieses enorme Freiheitspotenzial droht beschädigt zu werden, wenn Deutschland im Hauruckverfahren ein unausgereiftes Gesetz mit gefährlichen Folgen für die Pressefreiheit in die Welt setzt, das zum Präzedenzfall für neue Zensurgesetze in Ländern mit weniger entwickeltem Rechtsstaat werden könnte.

Immer wieder werden journalistische Beiträge gelöscht

Dabei wäre eine Regulierung sozialer Medien dringend nötig. Denn schon heute entfernen soziale Netzwerke immer wieder journalistische Inhalte und rücken allenfalls nach Protesten davon ab. So löschte Facebook im vergangenen September einen Post der norwegischen Zeitung Aftenposten, der das weltberühmte Foto des „Vietnam-Mädchens“ zeigte, das nackt vor einem Napalm-Angriff flieht. Im Juni 2016 sperrte das soziale Netzwerk das Account des französischen Journalisten David Thomson von Radio France International, der auf dschihadistische Bewegungen spezialisiert ist und in einem älteren Post ein Foto gezeigt hatte, auf dem eine Flagge des „Islamischen Staates“ zu sehen war. Im März 2015 sperrte Facebook das Account des US-Kunstkritikers Jerry Saltz, weil er mittelalterliche Gemälde mit Folterszenen hochgeladen hatte.

In Myanmar geriet Facebook vergangenen Monat in die Kritik, weil das Netzwerk plötzlich Beiträge sperrte, die das Wort „kalar“ enthielten – eine oft von nationalistischen Hetzern verwendete abschätzige Bezeichnung für die muslimische Minderheit im Land. Das gleiche Wort kann aber auch in völlig unverfänglichen Ausdrücken vorkommen oder in journalistischen Artikeln über die Hetze von Nationalisten gegen Minderheiten verwendet werden. Gelöscht wurde es trotzdem und automatisch.

Solche Fälle zeigen, wie problematisch es ist, dass soziale Netzwerke nach oft völlig undurchsichtigen Regeln in Eigenregie entscheiden, bestimmte Beiträge zu löschen. Seit Jahren kritisiert Reporter ohne Grenzen deshalb, dass zum Beispiel Facebook sich einer ernsthaften Debatte über seine intransparente Löschpraxis verweigert. Mit dem geplanten Netzdurchsetzungsgesetz will die große Koalition diese private Rechtsdurchsetzung nun verschärfen, anstatt die Löschpraktiken stärker an rechtsstaatliche Verfahren zu binden.

Unklare Kriterien, gefährlich schwammige Formulierungen

Das geplante Gesetz soll soziale Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern in Deutschland verpflichten, „offensichtlich rechtswidrige“ Inhalte wie Volksverhetzung, Bedrohung, Beleidigung oder üble Nachrede innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu löschen, sonstige „rechtswidrige“ Inhalte innerhalb von sieben Tagen. Bei Verstößen droht das Gesetz verantwortlichen Personen mit Bußgeldern von bis zu fünf Millionen Euro, die betroffenen Unternehmen können mit bis zu 50 Millionen Euro belangt werden. 

Die Gesetzesbegründung stützt sich auf die vagen Begriffe „Hasskriminalität“ und „strafbare Falschnachrichten“, deren Bekämpfung „auch in Deutschland eine hohe Priorität“ gewonnen habe. Damit lehnt sie sich offensichtlich an die in der öffentlichen Debatte geläufigen Begriffe „fake news“ und „hate speech“ an. Statt sie jedoch klar zu definieren, verweist der Entwurf auf eine Reihe bestehender Straftatbestände. Als Beleg nennt er eine einzige Erhebung von jugendschutz.net, die auf begrenzter Datenbasis nur zwei dieser Straftatbestände untersuchte, nämlich Volksverhetzung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Warum und nach welchen Kriterien 22 weitere Straftatbestände in das Gesetz aufgenommen werden sollen, ist nicht nachvollziehbar: Der Entwurf kann nicht belastbar zeigen, bei welchen Delikten welche Probleme in der Rechtsdurchsetzung auftreten. Für das vermeintliche Problem „strafbarer Falschnachrichten“ konnte das Bundesjustizministerium auf Nachfrage von Journalisten kein einziges Beispiel nennen.

Das Gesetz soll laut Entwurf auch für „andere strafbare Inhalte“ gelten – eine schwammige und willkürlich auslegbare Formulierung, die Spielraum für eine unverhältnismäßig breite Interpretation lässt. In autokratisch regierten Ländern werden solche vagen Formulierungen regelmäßig genutzt, um Grundrechte zu beschneiden.

Durch strenge Zeitvorgaben und die Androhung hoher Bußgelder birgt das Gesetz die Gefahr, dass soziale Netzwerke in Zukunft übermäßig Inhalte blockieren. Indem die Betreiber aus Angst vor Strafe in jedem Fall rechtmäßig handeln wollen, könnten sie im Zweifel auch journalistische Artikel oder Meinungsäußerungen löschen, bei denen nicht abschließend geklärt ist, ob sie rechtswidrig sind oder nicht. Über die Rechtmäßigkeit von Meinungsäußerungen müssen jedoch unabhängige Gerichte entscheiden; keinesfalls darf diese Aufgabe noch stärker an kommerzielle Unternehmen ausgelagert werden.

„Hasskriminalität“ und „strafbare Falschnachrichten unterschiedlich behandeln

Bedenklich ist außerdem, dass der Gesetzentwurf „Hasskriminalität“ ebenso behandelt wie „strafbare Falschnachrichten“: Während es in Fällen offensichtlicher „Hasskriminalität“ geboten sein kann, Beiträge schnell zu sperren, um Schaden vom demokratischen Diskurs abzuwenden, ist die Prüfung angeblicher Falschnachrichten rechtlich deutlich komplexer. Wenn Mitarbeiter sozialer Netzwerke fortan den Wahrheitsgehalt von Informationen unter hohem Zeitdruck prüfen sollen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch journalistische Berichte löschen, die zum Beispiel aus Gründen des Quellenschutzes Faktenbehauptungen enthalten, die nicht unmittelbar nachprüfbar sind.

Das Gesetz verpflichtet soziale Netzwerke auch zur Einführung so genannter Inhaltsfilter – digitaler Systeme also, die online gestellte Inhalte in Bruchteilen von Sekunden analysieren und gegebenenfalls an allen verfügbaren Stellen löschen. Dies kann zur Folge haben, dass Menschen bestimmte Inhalte faktisch nicht mehr veröffentlichen können, obwohl sich keine juristische Instanz damit auseinandergesetzt hat, ob deren Inhalt strafbar ist oder nicht. So können zum Beispiel Rekrutierungsvideos der Terrororganisation „Islamischer Staat“ für sich genommen rechtswidrig sein. Wenn sich Journalisten aber damit kritisch auseinandersetzen, kann es rechtens und aus demokratischer Perspektive wünschenswert sein, solches Material auszugsweise zu zeigen. 

Wegen dieser und weiterer Mängel empfiehlt Reporter ohne Grenzen dem Bundestag, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz insgesamt zu verwerfen. In der kommenden Legislaturperiode sollte dann ein völlig neuer Anlauf zur Regulierung sozialer Netzwerke genommen werden, in den alle Stakeholder einbezogen werden müssen und für den zunächst eine ernstzunehmende empirische Datengrundlage zu schaffen ist. Dabei muss es nicht zuletzt darum gehen, die Unternehmen zu verbindlicher Transparenz über ihre Löschpraktiken wie auch zu mehr Transparenz über ihre Algorithmen zu bewegen.

Protest aus der Gesellschaft

Reporter ohne Grenzen hat bereits Anfang April zusammen mit einer breiten Allianz von Wirtschaftsverbänden, netzpolitischen Vereinen, Bürgerrechtsorganisationen und Rechtsexperten in einer gemeinsamen „Deklaration für die Meinungsfreiheit“  vor den Auswirkungen des Gesetzentwurfs auf die Meinungsfreiheit gewarnt

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz 16 von 180 Staaten.


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