Russland 17.08.2021

Parlamentswahl ohne Pressefreiheit

Russlands Präsident Wladimir Putin spricht mit Journalisten © MIKHAIL KLIMENTYEV/ SPUTNIK / AFP

Vor dem geplanten Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kritisiert Reporter ohne Grenzen (RSF) die massiven Einschränkungen für unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Russland. Mindestens fünf kremlkritische Nachrichtenportale mussten in den vergangenen Monaten ihre Arbeit einstellen, mehrere von ihnen wurden zu „ausländischen Agenten“ erklärt. In der vergangenen Woche wurde zudem bekannt, dass die langjährige Russland-Korrespondentin der BBC, Sarah Rainsford, das Land bis Ende August verlassen muss. Wie stark die Staatsmacht in Russland die Pressefreiheit vor der Parlamentswahl im September einschränkt, belegt ein ausführliches Update zum RSF-Länderbericht „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“, das am 31. August erscheint. 

„Die Staatsmacht in Russland geht zielgerichtet und drakonisch gegen alle vor, die Kritik üben oder einfach nur unabhängig berichten; immer mehr Kolleginnen und Kollegen müssen ihre Arbeit aufgeben oder sogar das Land verlassen“, sagte RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger. „Die de-facto-Ausweisung einer angesehenen Auslandskorrespondentin ist ein alarmierendes Zeichen und zeigt vor allem eins: Bei der Parlamentswahl am 19. September haben die Menschen in Putins Russland keine freie Wahl. Bundeskanzlerin Merkel muss dafür bei ihrem Treffen mit Präsident Putin deutliche Worte finden.“

In der vergangenen Woche hatte die russische Regierung angekündigt, die Akkreditierung von BBC-Korrespondentin Sarah Rainsford nicht zu verlängern. Sie müsse das Land bis Ende August verlassen und wurde darüber informiert, dass sie nicht wieder einreisen dürfe, sagte Rainsford dem eigenen Sender. Rainsford hatte seit sieben Jahren als Korrespondentin aus Russland berichtet und zuletzt mit kritischen Fragen an den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko für Aufsehen gesorgt. Das Außenministerium in Moskau begründete Rainsfords Ausweisung mit der angeblichen „Diskriminierung russischer Medien“ in Großbritannien und damit, dass der Korrespondent einer Nachrichtenagentur das Land 2019 wegen der Nichtverlängerung seines Visums habe verlassen müssen. Konkrete Namen nannte Ministeriumssprecherin Marina Sacharowa nicht. RSF sind derartige Fälle nicht bekannt.

Zum letzten Mal wurde vor zehn Jahren ein britischer Journalist aus Russland ausgewiesen: Luke Harding, Russland-Korrespondent der Tageszeitung The Guardian, wurde 2011 die Wiedereinreise verweigert, nachdem er an der Veröffentlichung der Wikileaks-Papiere mitgearbeitet hatte. 2014 wiesen die Behörden den US-amerikanischen Journalisten David Satter aus, der unter anderem zur Rolle des Inlandsgeheimdienstes FSB bei den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser 1999 recherchiert hatte. Ende 2015 musste Wacław Radziwinowicz, Korrespondent der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, das Land verlassen.

Unbequeme Medienschaffende werden zu „ausländischen Agenten“ erklärt

Doch vor allem russische Medien und Medienschaffende behindern die Behörden in den Monaten vor der Wahl massiv in ihrer Arbeit, unter anderem, indem diese zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden. Betroffene sind verpflichtet, regelmäßig detaillierte Rechenschafts- und Finanzberichte vorzulegen – ein hoher bürokratischer Aufwand, den besonders Einzelpersonen kaum leisten können. Bei Versäumnissen – oder auch, wenn sie unterlassen, sämtliche Inhalte, die sie veröffentlichen, mit dem Zusatz „ausländischer Agent“ zu versehen –, drohen hohe Geldstrafen und bis zu fünf Jahre Haft.

Zuletzt wurde am 23. Juli die Seite The Insider zur „ausländischen Agentin“ erklärt. Das Portal ist auf investigative Recherchen spezialisiert und hatte Ende 2020 gemeinsam mit der Rechercheplattform Bellingcat, dem US-amerikanischen Nachrichtensender CNN und dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel die Namen von Geheimdienst-Offizieren veröffentlicht, die an der Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny beteiligt gewesen sein sollen. Am 28. Juli durchsuchten Sicherheitskräfte die Wohnung von Chefredakteur Roman Dobrochotow und zogen neben Telefonen und Computern dessen Reisepass ein, was faktisch einer Ausreisesperre gleichkommt.

Durchsuchungen und Verhöre bei Investigativ-Journalisten

Ein anderes bekanntes Investigativ-Portal, Projekt Media, setzten die Behörden derart unter Druck, dass die Redaktion schließlich die Arbeit einstellte. Am 29. Juni durchsuchten Sicherheitskräfte die Wohnungen von Chefredakteur Roman Badanin, des stellvertretenden Chefredakteurs Michail Rubin und der Redakteurin Maria Scholobowaja. Alle drei wurden nach Verhören wieder freigelassen. Am Morgen des gleichen Tages hatte die Redaktion eine Recherche zum Reichtum der Familie von Innenminister Wladimir Kolokolzew veröffentlicht. Die Seite war daraufhin vorübergehend nicht erreichbar.

Am 15. Juli erklärten die Behörden Projekt Media zur „unerwünschten Organisation“. Sowohl gegen Redaktionsmitglieder als auch gegen alle, die dem Portal für seine Recherchen Geld spenden, können unter diesem Vorwand Strafverfahren eröffnet werden. Das Portal erklärte sich daraufhin für aufgelöst. Am gleichen Tag wurden mehrere Mitarbeitende der Redaktion auf die Liste ausländischer Agentinnen und Agenten gesetzt: Neben Chefredakteur Roman Badanin traf dies Pjotr Manjachin und Olga Tschurakowa sowie am 23. Juli Michail Rubin. Ende Juli gaben Badanin und Rubin – beide zu der Zeit in den USA – an, vorerst nicht nach Russland zurückzukehren und auch andere Redaktionsmitglieder bei der Ausreise unterstützen zu wollen.

Immer mehr Redaktionen müssen schließen

Am 5. August stellten auch die durch den in London lebenden Oligarchen Michail Chodorkowski finanzierten Online-Medien Otkrytyje Media und MBCh-Media ihre Arbeit ein. Einen Tag zuvor hatte die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor die Seiten auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft blockiert und dies damit begründet, es seien Informationsressourcen der von Chodorkowski gegründeten zivilgesellschaftlichen Organisation Otkrytaja Rossija (dt.: Offenes Russland). Diese war bereits 2017 zur „unerwünschten Organisation“ erklärt worden und hatte im Mai 2021 ihre Arbeit eingestellt. Julia Jarosch, die Chefredakteurin von Otkrytyje Media, ihr Stellvertreter Maxim Glikin sowie der Journalist Ilja Roschdestwenski wurden auf die Liste „ausländischer Agentinnen und Agenten“ gesetzt. Veronika Kuzyllo, die Chefredakteurin von MBCh-Media erklärte die Schließung ihres Portals auf Facebook mit den wachsenden Risiken, denen nicht nur Mitarbeitende der Redaktion inzwischen ausgesetzt seien, sondern auch Leserinnen und Leser, die Inhalte lediglich weiterleiteten.

Ebenfalls geschlossen hatten im Mai die Portale VTimes und Newsru.com. Das Wirtschaftsportal VTimes hatten erst ein Jahr zuvor Redakteurinnen und Redakteure gegründet, die die Tageszeitung Wedomosti aus politischen Gründen verlassen hatten. Am 14. Mai 2021 wurde VTimes in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufgenommen. Die Redaktion von Newsru.com begründete das Ende ihrer Tätigkeit mit der politischen Situation im Land, in der qualitativ hochwertige journalistische Arbeit nicht mehr möglich sei.

Dutzende Einträge auf der Liste „ausländischer Agenten“

Im Register der „Medien, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen“, das das russische Justizministerium seit 2017 führt, stehen inzwischen 34 Medienschaffende, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und Medien. Zwei Drittel davon sind allein seit Dezember 2020 dazugekommen. Auch Meduza, die reichweitenstärkste unabhängige Nachrichtenseite in russischer Sprache, wurde am 23. April zur „ausländischen Agentin“ erklärt und kämpft seither ums finanzielle Überleben.

Wie stark neue Gesetze – unter anderem die verschärften Regelungen zu „ausländischen Agenten“ die Meinungsfreiheit in den Medien und im Internet einschränken, beschreibt Reporter ohne Grenzen in einem Update des Länderberichts „Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland“, das am 31. August erscheint. Der Bericht legt zudem dar, mit welchen Mitteln die Staatsmacht gegen unabhängige Medienschaffende vorgeht und wie auch internationale Online-Plattformen im Jahr der Parlamentswahl zunehmend unter Druck gesetzt werden.

Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Rang 150 von 180 Staaten.

 



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