Georgien
22.03.2023
Regierung kippt geplantes Agenten-Gesetz
Zehntausende Protestierende, Steine und Molotowcocktails, Polizisten, die Wasserwerfer und Tränengas einsetzen: Nach mehrtägigen Massenprotesten hat die georgische Regierung das geplante „Gesetz gegen ausländische Agenten“ gekippt. Georgiens Parlament stimmte am 10. März 2023 in zweiter Lesung gegen das umstrittene Gesetzesvorhaben.
„Wir begrüßen die Entscheidung des georgischen Parlaments“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Sie zeigt, dass zivilgesellschaftliche Proteste wirken. Das geplante Gesetz war ein klarer Versuch, Medienschaffende zu stigmatisieren und einzuschüchtern. Es hätte die Arbeit unabhängiger Medien in Georgien stark eingeschränkt.“
Die Initiative zu einem Agenten-Gesetz kam von der neunköpfigen parlamentarischen Gruppe „Macht des Volkes“. Diese hatte sich im vergangenen Herbst als antiwestliche Fraktion von der Regierungspartei „Georgischer Traum“ abgespaltet, unterstützt diese jedoch weiterhin im Parlament. Am 14. Februar 2023 brachte die Splittergruppe den Gesetzesentwurf „Zur Transparenz ausländischer Einflussnahme“ ins Parlament ein. Diesem zufolge sollten sich Medien – und Nichtregierungsorganisationen –, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als „Agenten unter ausländischem Einfluss“ registrieren lassen. Eine Weigerung wäre zunächst mit einer Geldstrafe bis zu einer Höhe von 8.000 Euro geahndet worden. Danach wäre die Eintragung in das Register trotzdem erfolgt. Betroffene Medien oder Organisationen sollten jährlich einen zusätzlichen Finanzbericht vorlegen. Eine entsprechende Kennzeichnung ihrer Publikationen, wie in Russland üblich, war zunächst nicht vorgesehen. Dennoch zielt die Kennzeichnung als Agent auf eine Stigmatisierung. Schon zu Sowjetzeiten stand dieser Begriff für den Feind.
Am 22. Februar 2023 brachte „Macht des Volkes“ zusätzlich eine zweite Variante des Agenten-Gesetzes ins Parlament ein. Das „Gesetz zur Registrierung ausländischer Agenten“ ging über den ersten Entwurf deutlich hinaus: Zusätzlich zu Medien und Organisationen sollten nun auch Personen, zum Beispiel Medienschaffende, als Agenten eingestuft werden können. Auch Haftstrafen waren nun möglich: Für eine Verweigerung der Registrierung, oder andere Verstöße, sah der Entwurf Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren vor. Außerdem sollte die Kennzeichnung von Publikationen verpflichtend werden.
Wie in den USA?
Die Regierung verteidigte beide Entwürfe mit Verweis auf den amerikanischen Foreign Agents Registration Act (FARA). Die zweite Vorlage sei gar eine Kopie dieses US-Gesetzes, behauptete Irakli Kobachidse, der Vorsitzende des „Georgischen Traums“. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin rechtfertigt das russische Agenten-Gesetz von 2012 mit Hinweis auf FARA.
Doch der Vergleich führt in die Irre. Die georgische Initiative weicht deutlich von dem amerikanischen Gesetz ab. Der wichtigste Unterschied: Das georgische Gesetz hätte die Einstufung als Agent allein aufgrund einer ausländischen Finanzierung ermöglicht. Unter FARA ist dies jedoch kein hinreichender Grund: Es setzt zusätzlich voraus, dass die einzustufende Organisation oder Person aus dem Ausland geführt und kontrolliert wird.
Der Trick mit der Venedig-Kommission
Doch welchen der vorgelegten Entwürfe sollte das Parlament beschließen? Die Entscheidung dieser Frage wollte Tbilissi der Venedig-Kommission des Europarates zuschieben, die Staaten in verfassungsrechtlichen Fragen berät. Der Plan: Beide Varianten sollten zunächst in erster Lesung angenommen werden und der Kommission anschließend zur Prüfung zugehen. Der besser bewertete Entwurf wäre dann zur Grundlage des Agenten-Gesetzes geworden, erklärte Irakli Kobachidse.
Nach russischem Vorbild?
Georgische Medienschaffende kritisierten die Gesetzesinitiative als Angriff auf die Pressefreiheit. In Wirklichkeit gehe es darum, kritische Berichterstattung zu verhindern. Die Gesetze seien an das russische Agenten-Gesetz von 2012 angelehnt, mit dem der Kreml Journalistinnen und Journalisten und Medien schikaniert. Mehr als 260 Nichtregierungsorganisationen und Medien unterzeichneten eine Petition gegen das Vorhaben. 63 Verlagshäuser, Medien und journalistische Verbände kündigten in einer gemeinsamen Erklärung an, sich nicht an ein georgisches Agenten-Gesetz zu halten.
Auch international gab es Widerspruch: Mehrere Botschaften, Nichtregierungsorganisationen, der Europarat und die Vereinten Nationen kritisierten das Vorhaben als demokratischen Rückschritt. Das Agenten-Gesetz widerspreche Georgiens Ambitionen, EU-Beitrittskandidat zu werden, warnte die Europäische Union.
Widerstand gegen das Gesetz
Am 2. März 2023 protestierten Medienschaffende mit Plakaten vor dem Parlament gegen den Beginn der Beratungen der Gesetze. Innerhalb des Parlaments kam es zu tumultartigen Szenen und Rangeleien, als oppositionelle Abgeordnete die Sitzungen mit Pfiffen störten. Bei einer Protestkundgebung am Abend wurden zwei Journalisten festgenommen: Der Redakteur Beka Jikuraschwili vom Internetmagazin Tabula und Sura Wardiaschwili, Generaldirektor der Onlinezeitschrift Publika. Als Folge von Wardiaschwilis Festnahme wurden die Parlaments-Akkreditierungen der Publika-Journalistinnen Natia Amiranaschwili, Keti Goguadze und Natia Leweraschwili für einen Monat ausgesetzt. Bei einem Handgemenge zwischen Demonstrierenden und der Polizei wurde zudem der Kameramann Niko Kokaia vom oppositionellen Sender TV Pirveli am Bein verletzt.
Ursprünglich sollte über den ersten Gesetzesentwurf am 9. März 2023 in erster Lesung abgestimmt werden. Doch nach der Ankündigung einer Großdemonstration zogen „Georgischer Traum“ und „Macht des Volkes“ die Abstimmung überraschend um zwei Tage vor – und billigten die Vorlage mehrheitlich.
Noch während der Stimmabgabe kam es zu spontanen Protesten vor dem Parlament. Am nächsten Abend demonstrierten Zehntausende unter dem Slogan „Nein zum russischen Gesetz“ in Tbilissi und den georgischen Großstädten Kutaissi und Batumi. Die Polizei ging mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstrierenden vor. Einige Protestierende warfen Steine und Molotowcocktails auf die Beamten. Während der beiden Demonstrationen wurden 133 Personen verhaftet.
Regierung macht taktische Zugeständnisse
Unter dem Eindruck der Massenproteste veröffentlichte die Regierungspartei am 9. März eine gemeinsame Erklärung mit „Macht des Volkes“: Das Agenten-Gesetz werde zurückgezogen. Dabei handelte es sich offensichtlich um ein taktisches Manöver, um Zeit zu gewinnen: Denn zurückgezogen werden konnte nur der zweite Entwurf, der noch keine Abstimmung passiert hatte. Auf den bereits in erster Lesung angenommenen ersten Gesetzesentwurf traf dies nach der Geschäftsordnung des georgischen Parlaments nicht zu. Er musste in zweiter Lesung abgelehnt werden. Sämtliche Sitzungen wurden wegen angeblicher Beschädigungen des Parlaments aber zunächst abgesagt.
Für Misstrauen sorgte darüber hinaus die Begründung der angekündigten Rücknahme. „Die Lügenmaschine war in der Lage, die Gesetzesvorlage in ein negatives Licht zu rücken und einen gewissen Teil der Öffentlichkeit in die Irre zu führen“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von „Georgischer Traum“ und „Macht des Volkes“. Radikale Kräfte hätten Jugendliche in illegale Aktivitäten verwickelt. Nach dem Abkühlen der Emotionen wolle man nun besser erklären, warum die „Transparenz ausländischen Einflusses“ in Georgien gewährleistet werden müsse. Es werde „Treffen mit der Bevölkerung“ geben und die „breite Öffentlichkeit über jedes Detail des Problems“ unterrichtet.
Die Demonstrierenden lasen diese Erklärung wie den Beginn einer großen Kampagne für das Gesetz – und kehrten am Abend zu einer weiteren Protestkundgebung zurück. Daraufhin setzte das Parlament für den 10. März 2023 eine Sondersitzung an. Mit den Stimmen von 35 Abgeordneten wurde das Gesetz in zweiter Lesung endgültig gekippt. Viele Abgeordnete der Regierungspartei waren der Abstimmung ferngeblieben.
Medienfreiheit weiter in Gefahr
Die Rücknahme des Agenten-Gesetzes ist ein großer Erfolg für Georgiens unabhängige Medien und die Zivilgesellschaft. Dass die Regierung in Tbilissi die kritische Presse jedoch weiter als Feind sieht, zeigte eine Pressekonferenz vier Tage nach dem Stopp des Agenten-Gesetzes: Die Proteste seien eine gemeinsame Kampagne von Medien, Opposition und Jugendgruppen „in den besten Traditionen des liberalen Faschismus“, wetterte Irakli Kobachidse. Am selben Tag forderten mehrere hundert Anhänger der rechten Gruppe Alt-Info während einer Kundgebung vor dem Parlament ein Referendum über das Agenten-Gesetz. Dabei wurden mehrere EU-Fahnen verbrannt.
Situation der Pressefreiheit verschlechtert sich
Die Situation der Pressefreiheit verschlechtert sich in der dritten Amtszeit der Regierungspartei „Georgischer Traum“ stetig. Kritische Medien stehen unter massivem Druck, Medienschaffende werden im Internet mit Verleumdungskampagnen überzogen. Eine im Dezember 2022 verabschiedete Änderung des Rundfunkgesetzes weitete die Zuständigkeiten des nationalen Medienregulators (National Communications Commission) aus – Medienschaffende warnten vor möglicher Zensur. Im Mai 2022 wurde Nika Gwaramia, Ex-Innenminister, Moderator und Eigentümer des oppositionellen Senders Mtawari TV, zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts soll er sich unlauter bereichert haben. Das Urteil gilt als politisch motiviert. Im Juli 2021 griffen rechte Demonstrierende mehr als 50 Medienschaffende an, die über einen Pride-Marsch in Tbilissi berichteten. Dabei wurde Alexander Laschkarawa, Kameramann des Senders TV Pirveli, so schwer zusammengeschlagen, dass er an seinen Verletzungen verstarb.
Georgien steht auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 89 von 180 Staaten.
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