Frankreich / EU
23.03.2021
RSF klagt gegen Facebook
Reporter ohne Grenzen hat bei der Pariser Staatsanwaltschaft Klage gegen Facebook wegen betrügerischer Geschäftspraktiken im Umgang mit Hassrede und Desinformation eingereicht. Entgegen den rechtsverbindlichen Versprechen des Social-Media-Unternehmens, ein „sicheres" digitales Umfeld zu bieten, habe Facebook zugelassen, dass sich Falschinformationen im Kontext der Covid-19-Pandemie sowie Hasskommentare und Drohungen gegen Medienschaffende ungehindert verbreiteten, so der Vorwurf.
Anhand von Expertenanalysen, Zeugenaussagen und Zitaten ehemaliger Facebook-Mitarbeitender zeigt die Klage auf, dass die in den Nutzungsbedingungen und Gemeinschaftsstandards getroffenen Zusagen des in Kalifornien ansässigen Unternehmens gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern größtenteils nicht eingehalten werden. Falschinformationen würden teils Monate nach Veröffentlichung ohne Kennzeichnung oder Einordnung weiterverbreitet, Hasskommentare trotz ihrer möglichen Auswirkungen auf die Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten nicht entfernt.
Um Facebooks mangelnde Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen seines Handelns anzuprangern, hat RSF nun erstmalig eine Klage auf Basis des französischen Verbraucherschutzstrafrechts eingereicht. Verbraucherinnen und Verbraucher verfügen in der französischen Rechtsprechung über besonders starke Mittel, ihre Rechte einzuklagen. Verletzungen des Verbraucherschutzes können neben erheblichen Geldstrafen auch Haftstrafen für die Verantwortlichen nach sich ziehen. In Deutschland wird der Verbraucherschutz dagegen vorwiegend zivilrechtlich durchgesetzt.
Facebook wird in Frankreich von etwa 38 Millionen Menschen genutzt, davon greifen 24 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher täglich auf die Plattform zu. Wenngleich das französische Rechtssystem die strategische Klageführung in diesem Bereich besonders begünstigt, könnte ein Erfolg vor Gericht auch andernorts Konsequenzen nach sich ziehen, da die Nutzungsbedingungen weltweit dieselben sind. RSF erwägt, ähnliche Klagen in anderen Ländern einzureichen.
Die aktuelle Beschwerde richtet sich gegen Facebook Frankreich und Facebook Irland, den Hauptsitz des Unternehmens in der EU. Nach den Artikeln L121-2 bis L121-5 des französischen Verbrauchergesetzes gilt eine Geschäftspraxis als betrügerisch, „wenn sie auf falschen Behauptungen, Aussagen oder Darstellungen beruht oder geeignet ist irrezuführen", insbesondere im Hinblick auf „die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung" oder „den Umfang der Versprechen des Werbenden". Ein entsprechendes Vergehen kann mit einer Geldstrafe von bis zu 10 Prozent des Jahresumsatzes geahndet werden.
In seinen Nutzungsbedingungen verpflichtet sich Facebook, mit professioneller Sorgfalt ein „sicheres Umfeld" bereitzustellen, das nicht dazu genutzt werden kann, „etwas (...) zu teilen, das rechtswidrig, irreführend, diskriminierend oder betrügerisch ist". In den Gemeinschaftsstandards verpflichtet sich das Unternehmen, die Verbreitung falscher Informationen „erheblich [zu] reduzieren". Und in einer Anzeige, die Anfang 2021 in zahlreichen französischen Medien veröffentlicht wurde, behauptet Facebook, „präzise Informationen in Echtzeit zu bieten, um die Pandemie besser zu bekämpfen" und erklärt, dass es mit Regierungen und internationalen Organisationen zusammenarbeite, um „zuverlässige Informationen über Covid-19 zu teilen".
Unabhängige Beobachter kommen zu gänzlich anderen Schlüssen. First Draft, eine 2015 gegründete gemeinnützige Organisation zur Bekämpfung von Desinformation im Netz, identifizierte Facebook kürzlich als "Drehscheibe für Impfstoff-Verschwörungstheorien" im französischsprachigen Raum. Laut dem German Marshall Fund (GMF) führten Facebook-Posts, die auf betrügerische Seiten verlinkten, im vierten Quartal 2020 zu 1,2 Milliarden Interaktionen. Ein 2020 veröffentlichter UNESCO-Bericht bezeichnete Facebook als die "am wenigsten sichere" Social-Media-Plattform. Die von RSF zur Unterstützung der Klage gesammelten Belege bestätigen das Ausmaß dieses Phänomens und liefern bezeichnende Beispiele.
Im Hinblick auf die Bekämpfung von Hass im Netz liefert RSF zwei wie im französischen Rechtssystem übliche gerichtliche Feststellungsprotokolle: Eines betrifft die Facebook-Seite des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Ausgabe „Tout ça pour ça" im September 2020. Zeitgleich begann der Prozess gegen die der Mittäterschaft Beschuldigten im Fall des Terroranschlags auf die Redaktion im Januar 2015. RSF registrierte Dutzende von Kommentaren, die Beleidigungen, Drohungen und Aufrufe zur Gewalt gegen das Magazin und seine Mitarbeitenden enthielten.
Das zweite Dokument protokolliert Hassbotschaften und Drohungen gegen Journalistinnen und Journalisten der französischen Fernsehsendung Quotidien, die auf öffentlichen Facebook-Seiten gepostet wurden, sowie Hasskommentare gegen die Regionalzeitung L'Union; ein Fotograf der Zeitung wurde im Februar 2021 brutal angegriffen. L´Union trug mit einer Erklärung zur verbalen Gewalt, der ihre Journalistinnen und Journalisten routinemäßig auf Facebook ausgesetzt sind, zu der Klage bei.
Weitere Klagedokumente stellen ausführlich dar, wie groß die Anzahl der Beiträge ist, die Desinformationen über Covid-19 enthalten, und dennoch nicht von Facebook gekennzeichnet wurden. So wurden allein fünf Posts eines prominenten, von Factchecking-Organisationen als verschwörungstheoretisch eingestuften Films innerhalb von zwei Monaten insgesamt mehr als 4,5 Millionen Mal angesehen.
Neben der strategischen Klageführung engagiert sich Reporter ohne Grenzen auch im Rahmen des von RSF angestoßenen Forums für Information und Demokratie und in seiner politischen Arbeit für einen besseren Umgang mit Desinformation im Internet und eine transparentere Moderation von Inhalten, die das Recht auf Presse- und Informationsfreiheit wahrt und Medienschaffende vor digitalen Übergriffen schützt.
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