Pressefreiheit in der Corona-Krise
25.03.2020
RSF startet Themenseite zur Pandemie
Die Covid-19-Pandemie hat weltweit gravierende Auswirkungen auf die Pressefreiheit. Regierungen halten Informationen über das Ausmaß der Epidemie zurück. Manche Regime versuchen, die Berichterstattung zu manipulieren. Journalistinnen, Journalisten und ihre Redaktionen werden festgenommen oder angefeindet, weil sie unabhängige Informationen über die Epidemie veröffentlichen. Einige Regierungen sammeln flächendeckend sensible Daten oder bestrafen die Verbreitung „falscher“ Informationen zur Corona-Krise. Inhaftierte Medienschaffende sitzen in überfüllten Gefängnissen mit schlechter Gesundheitsversorgung fest. Akut bedrohte Journalistinnen und Journalisten können wegen geschlossener Grenzen nicht ins Ausland fliehen.
Um die vielen Entwicklungen weltweit zu bündeln und sichtbarer zu machen, startet Reporter ohne Grenzen (RSF) eine eigene Themenseite zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Pressefreiheit. Unter www.reporter-ohne-grenzen.de/corona veröffentlichen wir ab sofort fortlaufend Pressemitteilungen, Videos, Kurzmeldungen in sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube und Twitter zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Pressefreiheit.
„Gerade in einer Krise wie der Corona-Pandemie ist Pressefreiheit unverzichtbar“, sagte der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. „Angesichts der dramatischen Entwicklungen weltweit müssen die Menschen in der Lage sein, sich aus vielfältigen Quellen zu informieren und das Handeln der Behörden auch kritisch zu hinterfragen. Viel zu viele Regierungen reagieren auf die Corona-Krise mit autoritären Reflexen wie Zensur, Überwachung, Repression und Desinformation. Wer jetzt eine unabhängige Berichterstattung einschränkt, vergrößert nicht nur die Verunsicherung, sondern setzt Menschen auch ganz realen Gefahren aus.“
Veröffentlichungsverbote und Zensur
Einige Staaten reagieren mit einer unverhohlenen Einschränkung der Pressefreiheit oder mit Zensur auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie. China und Iran versuchten von Anfang an, das Ausmaß der Epidemie zu vertuschen und unabhängige Berichte darüber zu verhindern. In Ungarn will die Regierung ein Notverordnungsgesetz durchsetzen, das neben weitreichenden Vollmachten für den Ministerpräsidenten bis zu fünf Jahre Haft für die Veröffentlichung falscher oder verzerrter Berichte vorsieht, die den Schutz der Öffentlichkeit behindern.
In Honduras hat Präsident Juan Orlando Hernández den Verfassungsartikel zur Pressefreiheit außer Kraft gesetzt. In Armenien dürfen Journalistinnen und Journalisten im Zuge des Ausnahmezustands nur noch amtliche Informationen zur Corona-Krise veröffentlichen; mehrere Medien mussten deshalb bereits Berichte löschen oder ändern. In Rumänien verboten die Behörden aufgrund von Notstandsregelungen ein Nachrichtenportal, weil es mehrfach falsche Nachrichten zur Corona-Krise verbreitet habe.
Repressalien und Kampagnen gegen Journalistinnen und Journalisten
In China sind mehrere Bürgerjournalisten verschwunden, nachdem sie kritisch über die Zustände in Wuhan während der dortigen Corona-Quarantäne berichtet hatten. Einige politische Kommentatoren, die den Umgang von Staats- und Parteichef Xi Jinping mit der Epidemie kritisierten, wurden festgenommen oder unter Hausarrest gestellt. Menschenrechtsgruppen berichten außerdem, mehr als 400 Internetnutzerinnen und -nutzer seien wegen der Verbreitung von „Gerüchten“ festgenommen worden. Als Reaktion auf einen kritischen Meinungsbeitrag im Wall Street Journal zu Chinas Umgang mit der Corona-Krise wies die Regierung eine Journalistin und zwei Journalisten der US-Zeitung aus.
Im Iran haben Geheimdienst und Revolutionswächter in praktisch allen Landesteilen Medienschaffende wegen ihrer Berichterstattung über die Epidemie zu Verhören vorgeladen. Mehrere von ihnen werden beschuldigt, sie hätten Gerüchte verbreitet.
Ägypten entzog einer Guardian-Journalistin die Akkreditierung und verwarnte den Kairoer Bürochef der New York Times, weil sie über eine Studie berichtet hatten, die für das Land weit höhere geschätzte Fallzahlen nannte als von den Behörden angegeben. Auf Twitter wurden die Maßnahmen von einer Hetzkampagne gegen den Guardian begleitet. Ägyptens Hoher Medienrat suspendierte zwei Nachrichtenportale für sechs Monate, weil sie „falsche“ Nachrichten zur Corona-Krise verbreitet hätten.
In der Türkei wurden binnen einer Woche sieben Medienschaffende unter dem Vorwurf der „Verbreitung von Panik“ festgenomen, weil sie über Corona-Ansteckungen und -Todesfälle berichtet hatten.
In Slowenien wurde der Journalist Blaž Zgaga zum Ziel einer Hass- und Verleumdungskampagne, nachdem er von den Behörden Auskunft über die Reaktion der Regierung auf die Corona-Gefahr verlangte. Inzwischen werden in den Medien der Regierungspartei sowie von deren Unterstützern auch Journalisten verunglimpft – und Journalistinnen mit Vergewaltigung bedroht – die kritisiert haben, dass sich das Kabinett mitten in der Corona-Krise eine Gehaltserhöhung genehmigte.
Aus Venezuela berichtet die Pressefreiheits-NGO IPYS, Medienschaffende und ihre Quellen aus dem Gesundheitswesen hätten Drohungen von regionalen Funktionären sowie über soziale Netzwerke erhalten, nachdem sie über Corona-Verdachtsfälle und über die Zustände in Krankenhäusern berichtet hatten. Spezialkräfte nahmen einen freien Journalisten fest, der auf seinen Social-Media-Kanälen über die Corona-Krise berichtete; zur Begründung verwiesen sie auf einen anonymen Hinweis, dass er mit Covid-19 infiziert sei. Eine von der Nationalversammlung und Oppositionsführer Juan Guaidó betriebene Informationsseite über das Coronavirus blockierten die Behörden.
Digitale Überwachung und Auswertung von Ortungsdaten
Mehrere Staaten haben Ortungsdaten und individuelle Bewegungsprofile verwendet, um Kontaktpersonen von Covid-19-Erkrankten zu identifizieren. China hat sein bestehendes, umfassendes System digitaler Überwachung noch einmal massiv ausgeweitet, um die Bewegungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu überwachen und zu kontrollieren. Zusätzlich verschärfte China seine Zensur sozialer Medien – unter anderem mit neuen Verordnungen, die eine massenhafte Löschung von Nutzerprofilen erlauben.
Der Iran sammelte mit einer vermeintlich zur Covid-19-Diagnose geeigneten Smartphone-App massenhaft sensible Informationen wie Ortungsdaten, die mutmaßlich in Echtzeit an die Behörden übermittelt wurden. Russland setzt auf den massiven Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie im öffentlichen Raum, um in der Hauptstadt Moskau die Einhaltung von Quarantäne-Auflagen zu kontrollieren.
Südkorea überwacht mit Hilfe einer App unter Quarantäne stehende Menschen und verschickt an alle Bürgerinnen und Bürger „Sicherheitshinweise“, in denen die Orte genannt werden, an denen sich positiv auf das Coronavirus getestete Menschen aufgehalten haben. In Deutschland zog Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erst nach massiver Kritik einen Vorschlag vorläufig zurück, die Kontaktpersonen von Corona-Infizierten per Handyortung aufzuspüren. Medienberichten zufolge soll der Vorschlag jetzt überarbeitet und nach Ostern vorgestellt werden.
Der israelische Überwachungstechnologie-Anbieter NSO Group bietet nach eigenen Angaben Software für derartige Zwecke an, die schon von rund einem Dutzend Staaten getestet werde. Dass ausgerechnet dieses Unternehmen auf diese Weise Zugriff auf sensible Daten von Millionen Menschen bekommen könnte, stimmt äußerst bedenklich: Die NSO Group ist dafür bekannt, dass mit ihren Programmen viele Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel in Mexiko und Indien ausspioniert wurden, wahrscheinlich auch drei Vertraute des 2018 ermordeten saudi-arabischen Exil-Journalisten Jamal Khashoggi. Gerade in Krisenzeiten müssen Medienschaffende ohne Angst vor Überwachung oder vor der Aufdeckung ihrer Informationsquellen recherchieren können.
In diesem Zusammenhang weist Reporter ohne Grenzen auf die Mahnung der Beauftragten und Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit der OSZE, der Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten hin, dass derartige Überwachungstechnologie selbst angesichts der unbestrittenen Herausforderungen der Corona-Krise nur zeitlich begrenzt, zu genau definierten Zwecken und unter Schutz der Vertraulichkeit journalistischer Quellen zum Einsatz kommen darf.
Desinformation und manipulative Narrative
Spätestens seit Ende Februar streuen chinesische Regierungsvertreter in Medienäußerungen Zweifel daran, dass die Covid-19-Pandemie in China begann. Chinas Botschafter in mehreren Ländern haben der jeweils einheimischen Presse vorgeworfen, das Image Chinas durch „Lügen“ zu beschmutzen und das Coronavirus zu „politisieren“. Inzwischen forcieren Chinas Behörden und Staatsmedien die Darstellung, die Regierung habe die Epidemie im eigenen Land im Griff und ihr Krisenmanagement sei dem westlicher Demokratien überlegen. Dabei reagierte die Regierung in Peking von Anfang an mit Vertuschung und Zensur auf den Covid-19-Ausbruch und verlor dadurch wertvolle Zeit zur frühzeitigen Eindämmung der neuen Krankheit.
Staatliche und staatsnahe russische Medien verbreiten nach Beobachtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes in großem Stil Desinformation zur Corona-Krise sowohl für ein russisches Publikum als auch in anderen Ländern. Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro wirft den Medien vor, sie verbreiteten „Hysterie“ über die Auswirkungen des Virus, um ihn aus dem Amt zu drängen. US-Präsident Donald Trump verharmloste die Gefahren durch das Covid-19-Virus wochenlang und warf den Medien vor, mit ihrer Berichterstattung über dessen Ausbreitung Panik zu verbreiten.
Gefahren für inhaftierte Journalistinnen und Journalisten
In mehreren Ländern gibt die Corona-Pandemie Anlass zu größter Sorge um die Ansteckungsgefahr inhaftierter Medienschaffender. Im Iran sind viele politische Häftlinge wie die schwer kranke Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi anders als Zehntausende sonstige Gefangene von einer vorsorglichen Haftaussetzung ausgenommen geblieben. Dabei kann die mangelnde Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen des Landes schon in normalen Zeiten lebensbedrohliche Folgen haben. Auch die Türkei kündigte an, rund 100.000 Häftlinge zur Corona-Prävention vorläufig aus den Gefängnissen zu entlassen – allerdings nicht jene, denen Terrorismus vorgeworfen wird, wie es bei vielen der inhaftierten Journalistinnen und Journalisten der Fall ist.
Aus Syrien gibt es unbestätigte Berichte von Oppositionellen, dass schon Dutzende Häftlinge am Covid-19-Virus gestorben seien. Von einer am Sonntag angekündigten Amnestie dürften nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten zwar viele verurteilte Kriminelle profitieren, aber nicht Tausende politische Häftlinge. Ein bekannter Menschenrechtsanwalt befürchtet sogar, das Regime von Präsident Baschar al-Assad könnte die Situation nutzen, um seit Jahren inhaftierte oder verschwundene Menschen mit Verweis auf die Epidemie für tot zu erklären.
In Ägypten reagierten die Behörden auf Forderungen nach einer Haftaussetzung für inhaftierte Medienschaffende und andere politische Häftlinge, indem sie vier Angehörige des Bloggers Alaa Abdel Fattah bei einer friedlichen Demonstration für seine Freilassung festnahmen.
Medienschaffende auf der Flucht sitzen fest
Für Journalistinnen und Journalisten in akuten Verfolgungssituationen bedeuten die Grenzschließungen wegen der Corona-Krise, dass ihnen der Weg in ein sicheres Nachbar- oder Drittland vorerst abgeschnitten ist. Dies gilt zum Beispiel für mehrere Hundert Medienschaffende, die seit Monaten in der Rebellen-Enklave Idlib im Norden Syriens festsitzen und für deren Schutz sich Reporter ohne Grenzen einsetzt. Für sie bedeutet die Epidemie angesichts der ohnehin prekären Gesundheitsversorgung für die mehr als eine Million Binnenflüchtlinge in der Region eine zusätzliche Gefahr für Leib und Leben neben den Angriffen des Regimes und der Willkür von Dschihadistengruppen.
Das Nothilfe-Referat von Reporter ohne Grenzen betreut aktuell mehrere Journalistinnen und Journalisten, die aufgrund der Verfolgung in ihrer Heimat schon Aufnahmezusagen aus Deutschland haben, nun aber nicht einreisen können. Auch mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den RSF-Stipendienprogrammen können ihre Aufenthalte in Deutschland, die ihnen nicht zuletzt eine Auszeit von ihrer Arbeit in Kriegs- und Krisenregionen verschaffen sollten, vorerst nicht wie geplant antreten.
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