Staatstrojaner
10.06.2021
RSF strebt Verfassungsbeschwerde an
Anlässlich der heutigen Bundestagsabstimmung über den künftigen Einsatz von Staatstrojanern durch die Nachrichtendienste warnt Reporter ohne Grenzen vor dem drohenden gravierenden Schaden für die Pressefreiheit und den digitalen Quellenschutz. Sollte der Gesetzentwurf verabschiedet werden, planen RSF und der Berliner Rechtsanwalt Prof. Niko Härting gemeinsam zügig Verfassungsbeschwerde einzulegen. Wiederholt hatten zivilgesellschaftliche Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, betroffene Kommunikationsanbieter und zuletzt auch die im Innenausschuss angehörten Rechtsexperten scharfe Kritik an dem Gesetzentwurf geübt und die Achtung von Bürgerrechten angemahnt.
„Ungeachtet aller Warnungen der Sachverständigen wollen die Regierungsfraktionen nun allen Nachrichtendiensten die Möglichkeit zum Hacking vertraulicher Kommunikation und Daten einräumen. Journalistinnen und Journalisten schließen sie dabei als potenzielle Ziele bewusst nicht aus“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Einen so massiven Angriff auf die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen und die Anonymität von Quellen dürfen wir nicht hinnehmen. Sollte das Gesetz heute Zustimmung finden, werden wir zügig Verfassungsbeschwerde einreichen, um einen angemessenen Schutz des Kommunikationsgeheimnisses im digitalen Raum und der Pressefreiheit in Karlsruhe zu erstreiten.“
Mithilfe von Spähsoftware sollen sich Geheimdienstmitarbeitende künftig Zugang zu Smartphones und Computern verschaffen dürfen und Chatnachrichten mitlesen, noch bevor sie über Messengerdienste wie WhatsApp oder Signal verschlüsselt versendet werden. Besonders umstritten ist die zusätzliche Erweiterung um den Zugriff auf gespeicherte Nachrichten, die seit dem Zeitpunkt der Bewilligung der Überwachungsmaßnahme versendet wurden („Quellen-TKÜ plus“). Sie weicht die ohnehin rein juristische Grenze zwischen dem Mitschneiden laufender Kommunikation und der allumfassenden Durchsuchung eines digitalen Gerätes zusätzlich auf. Praktisch basieren beide Methoden auf dem verdeckten Eindringen in ein Gerät, mithilfe dessen nicht nur Kommunikation abgehört oder Dateien eingesehen werden können, sondern Dokumente theoretisch auch verändert oder fremde Dateien platziert werden könnten. Eben dieses Missbrauchspotenzial stand im Fokus mehrerer Sachverständigenaussagen im Innenausschuss. Man laufe mit dem Gesetz „sehenden Auges in die Verfassungswidrigkeit“, bilanzierte der Göttinger Rechtsexperte Dr. Benjamin Rusteberg.
Reporter ohne Grenzen hat wiederholt auf die besonderen Gefahren für die Medienfreiheit hingewiesen. Journalistische Schutzrechte würden im digitalen Raum zunehmend ausgehöhlt, das Vertrauen von Informantinnen und Informanten in die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation mit Medienschaffenden massiv untergraben. Dass die Nachrichtendienste Sicherheitslücken gezielt offenhalten und ausnutzen dürfen, schade zudem der IT-Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken am gestrigen Mittwoch selbst einräumte.
Im Gegensatz zu den wachsenden technischen Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden wird die Nachrichtendienstkontrolle kaum gestärkt. Eine Erweiterung der für die Genehmigung von Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis zuständigen und von wenigen ehrenamtlichen Mitgliedern getragenen G10-Kommission um zusätzliche technische Expertise wird in der Begründung zum Änderungsantrag von CDU/CSU und SPD für nicht notwendig erklärt. Es steht daher weiterhin in Frage, ob die zunehmend zersplitterte Kontrollarchitektur angesichts immer weitreichenderer Möglichkeiten der verdeckten digitalen Überwachung in der Lage ist, unverhältnismäßige Eingriffe in die Privatsphäre von Bürgerinnen und Bürgern zu erkennen und wirksam zu sanktionieren.
Mangelnde Transparenz- und Informationspflichten der Dienste hindern möglicherweise Betroffene zugleich daran, sich auf dem Rechtsweg gegen Überwachungsmaßnahmen zu wehren. Gegen diesen Missstand geht Reporter ohne Grenzen gemeinsam mit Prof. Niko Härting derzeit mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor, zu der die Bundesregierung bis Ende September 2021 Stellung nehmen muss.
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