Internationaler Frauentag
08.03.2021
Wie Sexismus Journalistinnen bedroht
Journalismus kann für Männer wie für Frauen ein gefährlicher Beruf sein. Doch Journalistinnen gehen in ihrem Berufsalltag oft doppelte Risiken ein: Sexuelle Belästigung durch Interviewpartner, frauenverachtende Hasskommentare im Netz und Benachteiligung gegenüber männlichen Kollegen sind nur einige Beispiele davon. Darauf, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen für Journalistinnen in zahlreichen Ländern dies geschieht, wirft ein neuer Themenbericht von Reporter ohne Grenzen zum Internationalen Frauentag am 8. März ein Schlaglicht. Basierend auf einer nicht-repräsentativen Umfrage unter 112 Expertinnen und Experten stellt der Bericht zudem zahlreiche Fallbeispiele von Journalistinnen vor, die aufgrund ihrer Arbeit mit Sexismus und geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert waren.
„Anlässlich des Weltfrauentags möchten – und müssen – wir erneut deutlich machen, dass für Journalistinnen überall auf der Welt die Ausübung ihres Berufes oft schwieriger und gefährlicher ist als für ihre Kollegen. Sie müssen sich gegen sexuelle Belästigung wehren, wenn sie einfach nur ihren Job machen wollen. Sie müssen damit rechnen, dass eine Welle des Hasses über sie hereinbricht, wenn sie sich in den sozialen Netzwerken äußern. In manchen Ländern wie Pakistan oder Indien riskieren sie sogar ihr Leben“, sagte RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger. „Die Debatten rund um die #MeToo-Bewegung haben für viele dieser Aspekte das öffentliche Bewusstsein geschärft, doch es muss noch viel mehr getan werden.“
„Unser Bericht macht dafür zahlreiche Vorschläge“, so Gloger weiter: „Redaktionen sollten sich selbst zu Strukturen verpflichten, die helfen, Übergriffe zu verhindern und begangene Übergriffe zu ahnden. Soziale Netzwerke müssten koordinierte Hetzkampagnen wirksam unterbinden. Und durch die Einsetzung eines oder einer UN-Sonderbeauftragten für den Schutz von Journalistinnen und Journalisten könnte deren Schutz auf höchster Ebene bei den Vereinten Nationen institutionalisiert werden.“
Befragung von Expertinnen und Experten in 112 Ländern
Der Bericht basiert auf einer Befragung, an der im vergangenen Sommer 112 Personen aus 112 Ländern teilgenommen haben – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von RSF sowie auf Genderfragen spezialisierte Journalistinnen und Journalisten. Ihre erschreckende Bilanz: 40 der Teilnehmenden stufen ihr eigenes Land als „gefährlich“ oder „sehr gefährlich“ für Journalistinnen ein. Unter den „sehr gefährlichen“ sind Länder wie Mexiko, Indien und Syrien, die RSF jedes Jahr auch geschlechtsunabhängig zu den gefährlichsten Ländern für Medienschaffende weltweit zählt. Aber auch europäische Länder wie Polen, die Ukraine und Serbien wurden als riskant eingestuft.
Zum Weltfrauentag 2018 hatte RSF bereits einen Bericht über die Schwierigkeiten vorgelegt, mit denen sich männliche und weibliche Medienschaffende konfrontiert sehen, die über das Thema Frauenrechte berichten. Seitdem hat sich das Klima gegenüber feministischen Journalistinnen und Journalisten, aber auch gegenüber Journalistinnen im Allgemeinen, deutlich verschärft.
Das Internet ist der gefährlichste Ort für Journalistinnen
Die Ergebnisse der Umfrage bestätigen die Beobachtungen, die RSF in den vergangenen Jahren gemacht hat: So ist das Internet mittlerweile der gefährlichste Ort für Journalistinnen – 73 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Land Journalistinnen sexistischer Gewalt im Netz ausgesetzt seien. Die indische Kolumnistin und Investigativjournalistin Rana Ayyub ist ein prominentes Beispiel dafür. Sie erhält täglich Vergewaltigungs- und Morddrohungen in den sozialen Medien. Nachdem ein gefälschter pornografischer Film von ihr im Netz verbreitet wurde, erlitt sie einen Zusammenbruch.
58 Prozent der Befragten gaben zudem an, dass am Arbeitsplatz geschlechtsspezifische Gewalt gegen Journalistinnen ausgeübt werde. Die Vermutung liegt nahe, dass dieser relativ hohe Prozentsatz auf das gestiegene Bewusstsein für das Thema zurückzuführen ist. Für Aufklärung sorgten vor allem die internationale sowie nationale #MeToo-Debatten und mehrere prominente Fälle von Journalistinnen etwa in den USA (die ehemaligen Fox-News-Moderatorinnen Gretchen Carlson und Megyn Kelly), Japan (Shiori Ito) oder Indien, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz anprangerten. Vor wenigen Monaten machte die prominente dänische TV-Moderatorin Sofie Linde im Rahmen einer Fernsehgala öffentlich, vor Jahren von einem hochrangigen Vertreter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sexuell belästigt worden zu sein. In Dänemark, das weltweit als Vorbild bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen gilt, löste dies ein landesweites gesellschaftliches Erdbeben aus.
„Es ist (...) unsere dringende Pflicht, den Journalismus mit aller Kraft gegen alle drohenden Gefahren zu verteidigen, zu denen auch geschlechtsspezifische und sexuelle Übergriffe und Einschüchterungen gehören“, schreibt RSF-Generalsekretär Christophe Deloire in seinem Vorwort zum Bericht. „Es ist unerträglich, dass Journalistinnen mit deutlich größeren Gefahren konfrontiert sind als ihre männlichen Kollegen und sich an einer zusätzlichen Front verteidigen müssen – einer komplexeren Front, die außerhalb von Redaktionen, aber manchmal auch innerhalb dieser lauert.“
Besonders viele Übergriffe bei den Themen Frauenrechte, Politik und Sport
In besonderem Maße Gewalt ausgesetzt sind Journalistinnen, die auf Frauenrechte, Politik und Sport spezialisiert sind. Die saudi-arabische Journalistin Nouf Abdulaziz al-Jerawi wurde inhaftiert, weil sie sich öffentlich dagegen ausgesprochen hatte, dass Frauen in ihrem Land einen männlichen Vormund haben müssen. Während ihrer Haft wurde sie mit Elektroschocks gefoltert und sexuell missbraucht. In Brasilien musste die Journalistin Patricia Campos Mello einen hohen Preis für ihre Recherchen darüber bezahlen, wie sich Jair Bolsonaro im Präsidentschaftswahlkampf eine Desinformationskampagne illegal finanzieren ließ. Nachdem sie von Präsident Bolsonaro und seinen Söhnen beschuldigt worden war, sich Informationen dazu mit sexuellen Gefälligkeiten erschlichen zu haben, wurde sie zur Zielscheibe einer frauenverachtenden Hetzkampagne. Ebenfalls in Brasilien riefen etwa 50 Sportjournalistinnen die Bewegung #DeixaElaTrabahlar (#LassSieArbeiten) ins Leben, um anzuprangern, dass immer wieder bei Live-Berichten Sportfans Reporterinnen Küsse aufzwingen. Und in Frankreich taten sich nach Berichten über Belästigungen in Sportredaktionen fast 40 Journalistinnen der Sportzeitung L’Equipe zusammen, um sich mit betroffenen Kolleginnen solidarisch zu zeigen.
In dem Bericht untersucht RSF auch die Auswirkungen dieser Gewalt. So bringen etwa erlittene Traumata die Betroffenen dazu, sich selbst zu zensieren oder gar ihren Beruf aufzugeben – was in der Konsequenz dem journalistischen Pluralismus insgesamt schadet. 43 Prozent der Befragten gaben an, dass Journalistinnen in ihrem jeweiligen Land als Reaktion auf geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt ihre Konten in sozialen Netzwerken vorübergehend oder sogar dauerhaft löschen, 48 Prozent berichteten von Selbstzensur sowie je 21 Prozent von Wechseln des Spezialgebiets und von Berufsaufgabe.
Der Bericht schließt mit einer Reihe von Empfehlungen, die helfen sollen, den Kreislauf von Gewalt und Diskriminierung zu durchbrechen. Sie richten sich an Journalistinnen und Journalisten, Redaktionen und die Politik gleichermaßen.
* Unter Sexismus sind in diesem Bericht alle Formen geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zu verstehen: Diskriminierung, Beleidigungen, sexuelle Belästigung, Berührungen, verbale und körperliche Übergriffe sexueller Natur, Vergewaltigungsdrohungen, Vergewaltigung.
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