Fünf Jahre nach Charlie Hebdo
07.01.2020
Schutz vor religiös motivierten Angriffen
Fünf Jahre nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 fordert Reporter ohne Grenzen (ROG) gemeinsam mit zwei Sonderberichterstattern der Vereinten Nationen Regierungen sowie internationale Organisationen weltweit auf, Journalistinnen und Journalisten gegen Angriffe aufgrund von religiöser Intoleranz zu schützen. Bei dem islamistisch motivierten Attentat wurden zwölf Menschen getötet, darunter acht Mitarbeitende von Charlie Hebdo.
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Paris am Montag (06. Januar) verurteilten der Generalsekretär der internationalen Organisation von Reporter ohne Grenzen, Christophe Deloire, sowie der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit, Ahmed Shaheed, und der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, David Kaye (über Video zugeschaltet), den weltweiten Anstieg von religiöser Intoleranz und Hassrede. Diese seien die Grundlage für die systematische Verletzung der Grundrechte von Medienschaffenden sowie von gewaltsamen Angriffen auf sie.
„Die Staats- und Regierungschefs der Welt haben aus dem Angriff auf Charlie Hebdo nichts gelernt“, so die gemeinsame Erklärung. „Wir erinnern sie – speziell auch diejenigen unter ihnen, die am 11. Januar 2015 in Paris gegen Terrorismus und für die Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen sind – daran, dass nicht nur Journalistinnen und Journalisten, Karikaturistinnen und Karikaturisten geschützt werden müssen, sondern auch deren Recht, Weltanschauungen zu kritisieren.“
Vorrangig fordert ROG gemeinsam mit den UN-Sonderberichterstattern, dass bei internationalen Initiativen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten der Aspekt der religiösen Intoleranz berücksichtigt wird. Alle UN-Mitgliedstaaten sollten daher den Tatbestand der Blasphemie entkriminalisieren, wie es die Bemerkungen des UN-Menschenrechtsausschusses, der Aktionsplan von Rabat, und die Resolution 16/18 der UN-Vollversammlung vom März 2011 nahelegen. Das Thema sollte zudem in den kommenden UN-Resolutionen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten erwähnt werden und in der von UN-Generalsekretär Antonio Guterres im Juni 2019 angestoßenen Strategie zu Hassrede eine zentrale Rolle spielen.
„Keine der bisherigen UN-Resolutionen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten hat die Gefahr erwähnt, die von religiöser Intoleranz ausgeht“, sagte ROG-Generalsekretär Christophe Deloire. „Egal ob dies aus Unachtsamkeit oder absichtlich geschehen ist: Dieses Versäumnis, eine der größten Bedrohungen des Journalismus anzusprechen, muss korrigiert werden.“
„Ich denke nicht, dass Demokratie und Menschenrechte existieren können ohne das Recht, Blasphemie zu betreiben“, sagte der Anwalt von Charlie Hebdo, Richard Malka, auf der Pressekonferenz in Paris am Montag. Er zeigte sich besorgt, dass sich die Situation in den fünf Jahren seit dem Anschlag verschärft habe: „Wer traut sich denn heute noch, Religionen zu kritisieren? Das Recht auf Blasphemie muss anerkannt und durchgesetzt werden.“
„Heute mehren sich beunruhigende Anzeichen, dass wir die Meinungsfreiheit nicht so hochhalten, wie wir es nach dem Anschlag behauptet haben“, sagte der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit Ahmed Shaheed. „Wir müssen ungerechtfertigte Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufheben. Das gilt vor allem für die Länder, in denen Blasphemiegesetze am häufigsten und härtesten angewendet werden.“
„Die Möglichkeit von Debatten sollte nicht das Privileg von Demokratien sein“, sagte der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit David Kaye. „Blasphemiegesetze werden in einigen Teilen der Welt benutzt, um Bedrohungen zu untermauern.“
„Es gibt nicht nur das Recht, jegliche Weltanschauung zu kritisieren, ohne Rücksicht auf den Glauben oder die Befindlichkeiten anderer zu nehmen – solche Kritik ist notwendig“, fügte Elizabeth O’Casey von Humanists International hinzu. „Wir müssen uns stark machen für Meinungsäußerungen, die anderen auf die Nerven gehen, sie herausfordern und sie den Status Quo und die herrschenden Machtverhältnisse hinterfragen lassen.“
Nur wenige Fortschritte bei der Entkriminalisierung von Blasphemie
Seit 56 Staats- und Regierungschefs sowie Vorsitzende internationaler Organisationen am 11. Januar 2015 in Paris für Meinungsfreiheit und gegen Terrorismus demonstrierten, hat sich in den Blasphemie-Gesetzgebungen weltweit wenig getan.
Laut Humanists International haben seit 2015 nur acht Länder Blasphemie-Gesetze abgeschafft. In 69 Ländern ist Blasphemie demnach weiterhin strafbar. Gotteslästerung wird in Saudi-Arabien mit körperlicher Züchtigung bestraft, in Ägypten mit Haftstrafen oder der Todesstrafe. Auch in sechs weiteren Ländern droht die Todesstrafe: in Mauretanien, Brunei, Pakistan, Iran, Afghanistan und Somalia. Abfall vom Glauben, ein Vorwurf, der immer wieder gegen Journalistinnen und Karikaturisten vorgebracht wird, ist in 18 Ländern strafbar; in 12 davon droht potenziell die Todesstrafe.
In einigen Ländern wurde die Gesetzgebung sogar verschärft. So sind in Brunei seit 2019 für Blasphemie, Abfall vom Glauben, Homosexualität und Ehebruch Bestrafungen durch Auspeitschung, Stockhiebe oder Tod vorgesehen. In Mauretanien wurden die Gesetze derart verschärft, dass auf gotteslästerliche Äußerungen oder Abfall vom Glauben automatisch die Todesstrafe steht.
In Europa hat die Entkriminalisierung von Blasphemie seit 2015 die größten Fortschritte gemacht. Norwegen schaffte sein entsprechendes Gesetz bereits 2009 ab, doch nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo nahm die Debatte um die Blasphemie-Gesetze in vielen Ländern Europas an Fahrt auf. 2015 wurde das Blasphemie-Gesetz in Island auf Initiative der Piratenpartei abgeschafft. In Frankreich war Blasphemie in der nationalen Gesetzgebung schon seit 1881 nicht mehr strafbar, die Region Alsace-Moselle zog aber erst 2017 nach. In Malta wurde Blasphemie 2015 entkriminalisiert, in Dänemark 2017, in Irland 2018 und in Griechenland 2019. Auch Kanada und Neuseeland änderten ihre Gesetze im vergangenen Jahr entsprechend.
In Deutschland ist bis heute die „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“ dann strafbar, wenn sie „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Ein ähnliches Gesetz existiert in Österreich.
Blasphemiegesetze als Druckmittel des Staates
Die saudi-arabischen Behörden hatten den Angriff auf Charlie Hebdo verurteilt, was sie aber nicht davon abhielt, am 9. Januar 2015 den Blogger Raif Badawi erstmalig öffentlich auspeitschen zu lassen. Im November 2014 war er wegen seines liberalen Blogs zu tausend Stock- oder Peitschenhieben sowie einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er sitzt bis heute im Gefängnis.
Für den Wiederabdruck des Propheten Mohammed mit einer Träne im Auge und dem Schild „Je suis Charlie“ in der Hand wurden die türkischen Kolumnisten Hikmet Cetinkaya und Ceyda Karan von der Zeitung Cumhuriyet im Jahr 2016 zu zwei Jahren Haft wegen „Aufstachelung zum Hass“ und der „Verletzung religiöser Werte“ verurteilt. Sie warten noch immer auf den Beginn des Berufungsprozesses.
Der ägyptische Blogger Sherif Gaber wurde im Oktober 2013 unter dem Vorwurf der Verbreitung „atheistischer Ideen“ festgenommen und 2015 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er Atheismus befürwortet habe. Nach Hinterlegung einer hohen Kaution wurde ihm erlaubt, Berufung einzulegen, woraufhin er an einen geheimen Ort flüchtete. 2019 veröffentlichte er auf YouTube ein Video mit dem Titel „Helft mir, aus Ägypten zu entkommen“.
Limon Fakir, ein kritischer Blogger aus Bangladesch, der über islamischen Fundamentalismus schrieb, wurde nach seiner Verhaftung im April 2017 zwei Wochen lang von der Polizei gefoltert und schließlich wegen „diffamierender Rede gegen den Propheten“ nach dem berüchtigten Artikel 57 des Informations- und Kommunikationsgesetzes angeklagt, das häufig gegen Blogger und Journalistinnen angewendet wird. Ihm droht eine 14-jährige Haftstrafe. Der Blogger Asas Noor floh aus Bangladesch nach Indien, nachdem er im Januar 2018 verhaftet worden war, weil seine Artikel als islamkritisch eingestuft wurden. Auch ihm droht eine 14-jährige Haftstrafe.
Ein Hoffnungsschimmer war im Juli 2019 die Freilassung des Mauretaniers Mohamed Cheikh Ould Mohamed Mkhaïtir. Der Blogger war ursprünglich im Dezember 2015 wegen Abfalls vom Glauben und Beleidigung des Propheten zum Tode verurteilt worden.
Angriffe durch Einzelpersonen oder bewaffnete Gruppen
Fünf Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo haben Angriffe auf Personen, die über Religion diskutieren oder sich über sie lustig machen, nicht nachgelassen und sich in den sozialen Netzwerken sogar verstärkt.
Die indische Journalistin Swathi Vadlamudi von der Zeitung The Hindu wurde im April 2018 wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ angeklagt. Sie hatte zwei Hindu-Gottheiten in einer Karikatur dargestellt. Zugleich wurde sie mit einer Welle von Online-Belästigungen und Morddrohungen überzogen. Ihr wurde angedroht, dasselbe Schicksal zu erleiden wie Gauri Lankesh, eine bekannte Zeitungsredakteurin, die im September 2017 wahrscheinlich von Hindu-Nationalisten erschossen wurde.
Mindestens ebenso aufgeheizt ist die Lage in der bangladeschischen Bevölkerung. Zuletzt gab es öffentliche Aufrufe, Shyamal Dutta, den Herausgeber der Tageszeitung Bhorer Kagaj, und seine Mitarbeitenden aufzuhängen. Viele atheistische Blogger wurden seit 2013 in Bangladesch ermordet. Zu ihnen gehört Ahmed Rajib Haider, der im Februar 2013 von militanten Islamisten zu Tode gehackt wurde, nachdem er online Kommentare zu religiösem Fundamentalismus gepostet hatte. Vier Blogger, die für ihre Verteidigung von Toleranz, Redefreiheit und freier Meinungsäußerung bekannt waren – Avijit Roy (Begründer der Nachrichten-Website Mukto-Mona), Washiqur Rahman, Ananta Bijoy Das und Niloy Neel – wurden 2015 getötet. Der junge Bürgerjournalist Nazim Uddin Samad wurde im April 2016 erschossen, weil er den Säkularismus verteidigt hatte. Die Ermittlungen in all diesen Fällen wurden eingestellt. Shahjahan Bachchu, Blogger und Herausgeber der Wochenzeitschrift Amader Bikrampu, gehört zu den jüngsten Opfern. Der Kämpfer für religiöse Toleranz war jahrelang von Dschihadisten und radikalen Islamisten bedroht worden und wurde im Juni 2018 von maskierten bewaffneten Männern getötet.
In Pakistan endeten Gotteslästerungsvorwürfe im April 2017 für Mashal Khan, einen 23-jährigen Journalismusstudenten, tödlich: Nach einer Debatte über Religion warfen Kommilitonen ihm vor, den Islam beleidigt zu haben. Ein Lynchmob zerrte ihn am nächsten Tag aus seinem Studentenwohnheim und erschlug ihn auf offener Straße.
In Jordanien wurde 2016 der christliche Schriftsteller Nahed Hattar erschossen. Er war bereits unter König Hussein in den 1980er-Jahren wegen Kritik an der Monarchie inhaftiert worden. 1988 entkam er knapp einem Mordversuch. Im September 2016 wurde er auf der Straße erschossen, als er auf dem Weg zum Gericht war. Ihm wurde der Prozess gemacht, weil er einen Cartoon auf Facebook geteilt hatte, der die dschihadistische Vision des Islamischen Staates von Gott und dem Paradies verspottete.
Selbst in Frankreich gibt es Journalisten, die wegen religiös motivierter Drohungen Polizeischutz benötigen. Dazu gehören aktuelle und ehemalige Charlie-Hebdo-Mitarbeitende, die auch nach fünf Jahren noch geschützt werden. Die anhaltenden Bedrohungen belasten die Zeitschrift auch wirtschaftlich, da sie im Laufe der Jahre immer mehr finanzielle Mittel für Sicherheit aufwenden musste. Der frühere Herausgeber von Charlie Hebdo, Philippe Val, steht bereits seit 2006 unter Polizeischutz, als die berühmten Mohammed-Karikaturen veröffentlicht wurden. Obwohl er seit 2009 nicht mehr für Charlie Hebdo arbeitet, ist er weiterhin Zielscheibe fundamentalistischer Gruppen. Die ehemalige Charlie-Hebdo-Journalistin Zineb el Rhazaouia muss seit Dezember wieder verstärkt geschützt werden. Sie erhält fortlaufend Morddrohungen; Fundamentalisten rufen dazu auf, sie zu verprügeln oder zu vergewaltigen.
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