Deutschland 03.12.2024

Selbstzensur rund um Nahost-Berichterstattung

Die Welt durch die Linse eines Journalisten zu sehen war in diesem Jahr nicht immer einfach. Gerade Journalistinnen, die viele über Nahost-Themen berichteten, sind erschöpft. © picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer
Die Welt durch die Linse eines Journalisten zu sehen war in diesem Jahr nicht immer einfach. Gerade Journalistinnen, die viele über Nahost-Themen berichteten, sind erschöpft. © picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer

Seit über einem Jahr herrscht Krieg in Gaza, bei dem bereits über 140 Medienschaffende durch das israelische Militär getötet wurden. Auch im Libanon kam es zu Verstößen gegen das Recht auf Information. Während Hamas und Hisbollah schon seit vielen Jahren Medienschaffende zensieren, einschüchtern und inhaftieren, häufen sich in letzter Zeit auch Einschränkungen der Pressefreiheit durch die israelische Regierung.

Die Auswirkungen des Konflikts reichen bis nach Deutschland: Medienschaffende, die sich mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen, sind physischen und verbalen Angriffen ausgesetzt. Vor allem Reporterinnen und Reporter, die das Leid der Palästinenser zeigen oder die israelische Kriegsführung beleuchten wollen, aber auch Medienschaffende, die über jüdisches Leben in Deutschland berichten, erleben ein angespanntes und feindseliges Arbeitsklima. Sie berichten von Hass und Hetze im Internet, von Druck in Redaktionen und von Selbstzensur. Diese Umstände können zu einer extremen mentalen Belastung führen.

„Vielen Journalistinnen und Journalisten, die sich trotz einer Vielzahl an Tabus und Ungewissheiten der Berichterstattung rund um Palästina-Themen widmen, ist eine spürbare Erschöpfung anzumerken: Zum einen wird RSF Gewalt auf Nahost-Demonstrationen gemeldet, ausgehend von Protestierenden oder der Polizei. Zum anderen klagen viele Medienschaffende über ein Klima der Angst und Selbstzensur in deutschen Medien“, sagt Katharina Viktoria Weiß, Deutschland-Expertin für Reporter ohne Grenzen.

Belastungsprobe für die deutsche Pressefreiheit

In den vergangenen Monaten traten viele freie und festangestellte Medienschaffende mit RSF in Kontakt und beschrieben die Pressefreiheit in Deutschland im Hinblick auf die Nahost-Berichterstattung in einigen Redaktionen als gefährdet: Vorgesetzte lehnten immer wieder ab, wenn sie zum Beispiel vorschlugen, die israelische Kriegsführung in einem Artikel zu kritisieren. Recherchen, die es bis zur Veröffentlichung schafften, wurden nach Angabe der Betroffenen häufig eine prominente Platzierung verweigert. Social-Media-Beiträge von Mitarbeitenden wurden kritisiert, selbst, wenn sie vor dem Beschäftigtenverhältnis abgesetzt worden waren. Und im Hinblick auf journalistische Produkte kam es immer wieder vor, dass Anweisungen für Formulierungen erteilt wurden. 

Im Einzelnen sind solche Situationen nicht ungewöhnlich für den redaktionellen Alltag. Recherchen von RSF zeigen jedoch, dass sich diese Reibungen zwischen Medienhäusern und Medienmitarbeitenden in diesem Jahr vor allem rund um die Nahost-Berichterstattung auffallend häufen. Zudem erhielt RSF Hinweise auf Situationen, in denen deutsche Redaktionen womöglich unbequeme Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen oder befristete Arbeitsverträge aufgelöst haben sollen.

Vor allem Journalistinnen und Journalisten mit Migrationshintergrund berichten, dass die fehlende Diversität in deutschen Redaktionen dazu führe, dass eine ausgewogene Berichterstattung häufig nicht möglich sei. Die Betroffenen stammen beispielsweise aus Lateinamerika oder dem arabischen Raum und beschreiben, wie die Angst, gemäß einer deutschen Diskurs-Definition als „antisemitisch“ abgestempelt zu werden, zu großer Unsicherheit in der Themenwahl führe. Bedenklich für die Pressefreiheit ist jedoch vor allem, dass Reporterinnen und Reporter Furcht vor Diffamierungs-Kampagnen haben. Manche berichten, dass sie sich aus Angst vor Jobverlust oder gesellschaftlicher Schmähung in vielen Situationen selbst zensieren. 

Hetze im Netz, Gewalt auf den Straßen

Auch Hatespeech im Netz belastete in den vergangenen Monaten die psychische Gesundheit von Medienschaffenden in Deutschland. Zwei prominente Beispiele: „Die Bitch gehört gehängt“ – dieser Mordaufruf wurde von einem Internetnutzer gegen die israelische Journalistin Antonia Yamin verbreitet. RTL-Reporterin Sophia Meier wurde unter anderem als „Terroristen-Unterstützerin“ bezeichnet oder mit Aussagen wie „Heute nicht vergewaltigt oder geschändet?“ beschimpft. Vor allem journalistisch arbeitende Frauen und insbesondere jene mit migrantisierter Biografie, sehen sich immer wieder mit Hassnachrichten konfrontiert.

Besonders gefährdet waren jedoch vor allem Medienschaffende, die 2024 von Nahost-Demonstrationen berichtet haben: Für das laufende Jahr dokumentiert RSF dort eine Zunahme von gewalttätigen Übergriffen auf Medienschaffende. Zum einen greifen Demonstrierende von dort berichtende Journalistinnen und Journalisten an. Zum anderen wird der Polizei Behinderung von Pressearbeit und Attacken gegen Medienmitarbeitende vorgeworfen. Seit 2020 sammelt RSF unter uebergriffe(at)reporter-ohne-grenzen.de Übergriffe gegen Medienschaffende. 

Die ausführliche Erhebung wird im Frühjahr 2025 in unsere jährliche Nahaufnahme einfließen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland aktuell auf Rang 10 von 180.



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