Türkei 24.07.2020

Social-Media-Plattformen im Visier

© picture alliance / NurPhoto | Diego Cupolo

Reporter ohne Grenzen (RSF) verurteilt die geplante Ausweitung des Gesetzes gegen Internetverbrechen auf Social-Media-Plattformen in der Türkei. Ziel der Regierung Erdogan ist es, nun auch die sozialen Medien zu kontrollieren, der einzige Ort, wo Journalistinnen und Journalisten noch vergleichsweise frei berichten können. Der türkische Präsident war zuletzt vor allem auf Social Media harsch für sein Coronavirus-Management kritisiert worden.

„Präsident Erdogan ist politisch geschwächt, deshalb will er internationale Plattformen national kontrollieren, um seine Kritiker im Internet zum Schweigen zu bringen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Werden diese Plattformen nun der Kontrolle von Gerichten unterstellt, die dem Einfluss des Präsidenten unterliegen, schließt sich auch noch der letzte freie Raum, in dem Journalistinnen und Journalisten unabhängiger berichten können. Es ist eindeutig, dass eine Kontrolle der Social-Media-Plattformen darauf abzielt, die wachsenden politischen Unruhen einzudämmen und dass dies Folgen für den Zugang zu unabhängigen Informationen haben wird, die gerade in einer so polarisierten Gesellschaft wie in der Türkei von entscheidender Bedeutung sind.“

In der Türkei gibt es mehr als 37 Millionen Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer; 16 Millionen Menschen sind auf Twitter unterwegs. Präsident Recep Tayyip Erdogan ist mehr denn je bestrebt, diese und andere soziale Medienplattformen unter die Kontrolle der Regierung zu bringen. Auf seinen Antrag hin legte die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) dem Parlament am 21. Juli den Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes gegen Internetverbrechen vor. Das 2007 erlassene Gesetz wird bereits jetzt massiv ausgenutzt, um unabhängige Online-Medien zum Schweigen zu bringen. Dabei berufen sich die Strafverfolgungsbehörden auf einen Tatbestand, der Beleidigungen und Bedrohungen der nationalen Sicherheit unter Strafe stellt.

Die Erweiterung des Gesetzes sieht nun vor, dass alle Plattformen mit einer gewissen Größe ein Büro in der Türkei eröffnen müssen. Sie müssen Entscheidungen türkischer Gerichte umsetzen und Mitteilungen türkischer Behörden an die Nutzerinnen und Nutzer weiterleiten. Auf Druck des Präsidenten könnte das Parlament diese Woche, noch vor Beginn der Sommerpause, über den elf Artikel umfassenden Gesetzentwurf abstimmen. Das Gesetz gegen Internetverbrechen war bereits im September 2019 ergänzt worden. Seitdem stehen digitale Medien unter der Kontrolle des Hohen Rundfunkrats (RTÜK) der Türkei.

Mehrstufiges Sanktionsverfahren

Laut Ankündigung von AKP-Vizepräsidentin Özlem Zengin muss jede soziale Medienplattform mit mehr als einer Million täglicher Nutzerinnen und Nutzer pro Tag einen Repräsentanten in der Türkei benennen, an den sich die türkischen Behörden wenden können, wenn sie Fälle von Beleidigungen, Einschüchterungen und Verletzungen der Privatsphäre beanstanden wollen. Zengin berief sich mit der geplanten Gesetzesänderung auf Deutschland, Frankreich und die USA, die ähnliche Gesetze verabschiedet oder geplant hätten. Ziel sei es nicht, Social-Media-Plattformen zu schließen.

Sollten sich die Plattformen weigern, einen Türkei-Vertreter zu ernennen, würden sie schrittweise sanktioniert: Zunächst droht eine Strafe von 10 Millionen Türkischen Lira (etwa 1,3 Millionen Euro). Im nächsten Schritt erhöht sich diese auf 30 Millionen Lira (ca. 3,9 Millionen Euro). Zudem drohen ein Werbeverbot, der Entzug von Einkünften und schließlich eine Reduzierung der Bandbreite. Internetprovider wären verpflichtet, dies innerhalb von vier Stunden umzusetzen.

Die türkischen Behörden wollen zudem durchsetzen, dass die Plattformen einen Mechanismus schaffen, um innerhalb von 48 Stunden auf Beschwerden über "Verletzungen der Persönlichkeitsrechte" oder auf gerichtliche Anordnungen zur Entfernung von Inhalten zu reagieren. Werden beleidigende Inhalte nicht entfernt, werden Webseiten innerhalb von vier Stunden geblockt.

Internetprovider, die die Beanstandungen der türkischen Behörden nicht an die betroffenen Personen weiterleiten, müssen mit einer Strafe von einer Million Lira (ca. 130.000 Euro) bis 10 Millionen Lira (etwa 1,3 Millionen Euro) rechnen.

„Nun passiert auch in der Türkei genau das, wovor wir von Anfang an gewarnt haben: Autoritäre Regime erlassen Gesetze zur Kontrolle von Social-Media-Plattformen und berufen sich dabei unter anderem auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, so RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Reaktion auf eine Maßnahme von Twitter?

Als eine von der AKP kontrollierte Troll-Armee gezielt gegen Kritikerinnen und Kritiker, darunter auch viele Medienschaffende, hetzte, kam vom Präsidenten dazu kein Wort. Im Juni schloss Twitter dann 7.340 von AKP-Trollen kontrollierte Konten, die insgesamt 37 Millionen Beiträge abgesetzt hatten, darunter 1,7 Millionen (Tweets, Retweets usw.), die Präsident Erdogan thematisierten.

Im April ließ die Regierung rund 100.000 Gefangene zum Schutz vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus frei. Im Zuge dessen wollte die Regierung auch einen Änderungsantrag durchsetzen, der das Recht auf Anonymität im Internet beendet hätte. Zur Begründung hieß es, man wolle gegen "Verletzungen der Privatsphäre" in sozialen Medien vorgehen.

Im letzten Moment wurde dieser Gesetzentwurf zurückgezogen, hat aber nun wieder an Aktualität gewonnen, in Folge einer Reihe von Tweets, in denen Erdogans Schwiegersohn, Finanzminister Berat Albayrak, beschimpft wurde, nachdem er bekannt gegeben hatte, dass seine Frau, Esra Albayrak (die Tochter des Präsidenten), ihr viertes Kind zur Welt gebracht hatte. Mitarbeitende Erdogans blockierten zudem missliebige Kommentare in seinem Account, als Tausende junge Menschen ihre Unzufriedenheit mit seiner Politik äußerten. Zeitweise führte der Hashtag #OyMoyYok(„Wir werden nicht für Sie stimmen“) die Twitter-Trends an.

„Sie verstehen jetzt, warum wir gegen diese sozialen Medien sind“, sagte Erdogan am 1. Juli. „Diese Nation und dieses Land haben eine solche Behandlung nicht verdient. Deshalb wollen wir das Thema so schnell wie möglich im Parlament behandeln und alle diese Plattformen einhegen.“

Krieg gegen unabhängige Informationen

Die Regierung übt starken Einfluss auf viele Richterinnen und Richter aus, die dann ohne Angabe von Gründen Online-Artikel zensieren. Mitte Februar ordnete ein Richter die Sperrung von 232 Artikeln an, die von Nachrichten-Webseiten und anderen Medien wie Cumhuriyet, Bianet, Diken, BirGün, Artı, Gerçek, Gazete Duvar, T24, Odatv, Sputnik Türkiye, Evrensel, Halk TV, Tele1 sowie Gerçek Gündem online veröffentlicht worden waren. Sie alle hatten über den Landerwerb des Finanzministers in Ostthrakien (dem westlichsten Teil der Türkei) berichtet, durch den die Regierung einen Kanal bauen will, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll.

Im März 2019 berichtete Reporter ohne Grenzen, dass die Gerichte im Jahr 2018 den Zugang zu mindestens 2.950 Artikeln und journalistischen Inhalten blockiert haben, darunter Recherchen und Berichte über politische Korruption, Klientelpolitik, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung von Arbeiterinnen und  Arbeitern und dass unzählige Inhalte auch ohne Verweis auf die Gerichte blockiert wurden. Die türkischen Behörden hatten auch keine Skrupel, jeglichen Zugang zur Online-Enzyklopädie Wikipedia von April 2017 bis Januar 2020 aufgrund von Inhalten zu sperren, die die Türkei der Komplizenschaft mit dem islamischen Staat beschuldigen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten.



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