Russland 17.06.2020

Sorge um kritische Wirtschaftszeitung

© Jewgeni Rasumny / Wedomosti

Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft die russische Regierung auf, sich nicht in die Redaktionspolitik der angesehenen russischen Wirtschaftszeitung Wedomosti einzumischen. Deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kämpfen seit Monaten um ihre redaktionelle Unabhängigkeit und gegen einen neu eingesetzten Chefredakteur. Nach dem Verkauf an einen staatsnahen Medienunternehmer kündigten am Montag aus Protest die fünf stellvertretenden Chefredakteure. Der stellvertretende Informationsminister Alexej Wolin erklärte, Redakteurinnen und Redakteure, die nicht bereit seien, den neuen Chefredakteur anzuerkennen, müssten unverzüglich entlassen werden.

„Mit Wedomosti droht eine der letzten kritischen Stimmen auf dem Markt der russischen Wirtschaftszeitungen von Kreml-Unterstützern kontrolliert zu werden“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. „Die Regierung sollte die Unabhängigkeit solcher Redaktionen schützen, statt sich wie der stellvertretende Informationsminister unverhohlen in deren Belange einzumischen.“

Die Wirtschaftszeitung Wedomosti gehörte zu den wenigen verbliebenen Printmedien in Russland, die noch unabhängig berichteten. Sie war 1999 als Gemeinschaftsprojekt der britischen Tageszeitung Financial Times, des US-amerikanischen Wall Street Journal und des finnischen Medienkonzerns Sanoma entstanden. Aufgrund eines Gesetzes, das ausländische Anteile an russischen Medien auf maximal 20 Prozent beschränkt und im Januar 2016 in Kraft trat, verkauften die drei ausländischen Investoren Wedomosti 2015 an den Medienunternehmer Demjan Kudrjawtsew. Dieser ersetzte im Mai 2017 die renommierte Chefredakteurin Tatjana Lysowa durch Ilja Bulawinow, der zuvor als leitender Redakteur beim staatlichen TV-Sender Perwyj Kanal gearbeitet hatte.

Entsetzen über neuen Chefredakteur

Mitte März 2020 kündigte Kudrjawtsew an, die Zeitung an zwei kremlnahe neue Eigentümer zu verkaufen. Als kommissarischer Chefredakteur wurde Andrej Schmarow eingesetzt. Bereits bei seinem ersten Treffen mit der Redaktion am 24. März provozierte der 64-Jährige heftige Kritik mit dem Bekenntnis, Wedomosti selbst nicht mehr zu lesen, seit ihm einige Artikel in der Zeitung nicht gefallen hätten. Er kenne auch das Redaktionsstatut nicht, das Regeln für die unabhängige Berichterstattung festschreibt und in der russischen Medienlandschaft als beispielhaft gilt. Schmarow erklärte, er sehe kein Problem darin, wenn sich Eigentümer in die Redaktionsarbeit einmischten. Darauf angesprochen, ob der staatliche Ölkonzern Rosneft an seiner Ernennung beteiligt gewesen sei, schloss er dies nicht aus. Welche Rolle der Konzern bei den Eigentümerwechseln der Zeitung in den vergangenen Jahren und bei der Auswahl des neuen Chefredakteurs spielte, legte eine gemeinsame Recherche mehrerer russischer Medien Mitte Mai dar.

Die ersten Schritte Andrej Schmarows führten zu einer schweren Vertrauenskrise zwischen der Redaktion und dem amtierenden Chefredakteur: Am 30. März änderte Schmarow ohne Absprache die Überschrift eines Textes über den Ölkonzern Rosneft, sodass sie nicht mehr regierungskritisch klang, sondern den Kreml in ein positives Licht rückte. Als die Redaktion dies bemerkte, machte sie die Änderungen online wieder rückgängig. Am 12. April löschte er eigenmächtig einen Kommentar, der sich kritisch mit Rosneft und dessen Direktor Igor Setschin auseinandersetze. Der Autor veröffentlichte den Text daraufhin auf seiner Facebook-Seite und die Nachrichtenseite Meduza übersetzte ihn ins Englische. Am 22. April verbot Schmarow der Redaktion, über Umfragen des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum zu berichten sowie die angestrebte Verlängerung der Amtszeit von Präsident Putin zu kritisieren. Er begründete dies damit, dass die Präsidialadministration mit der Berichterstattung unzufrieden sei.

Die Redaktion wehrt sich vergeblich

Bereits am 29. März forderten leitende Redakteure in einem Brief an die potenziellen neuen Eigentümer, den Posten der Chefredaktion mit einer Journalistin aus dem eigenen Haus neu zu besetzen – vergeblich. Am 23. April veröffentlichte die Redaktion ein Editorial, in dem sie Chefredakteur Schmarow Zensur vorwarf und warnte, unter seiner Führung verliere die Zeitung massiv an Vertrauen. Am gleichen Tag zog einer der potenziellen neuen Eigentümer sein Interesse am Kauf von Wedomosti zurück, etliche Leserinnen und Leser kündigten ihre Abonnements. Die Konflikte in der Redaktion führten dazu, dass Wedomosti – anders als die Wirtschaftszeitungen Kommersant und RBK – nicht auf die Liste „strategischer Unternehmen“ gesetzt wurde, die in der Corona-Krise Finanzhilfen vom Staat erhalten sollten.

Ende Mai wurde Wedomosti überraschend an Iwan Jerjomin verkauft, einen Medienunternehmer aus dem Ural. Der Gründer der Agentur FederalPress, die Nachrichten aus verschiedenen Regionen Russlands verbreitet, arbeite aktiv mit staatlichen Behörden zusammen und sei bekannt dafür, in seinen Medien bezahlte Inhalte zu veröffentlichen, warnten Wedomosti-Journalisten nach dem Verkauf. Als der Verwaltungsrat Andrej Schmarow Mitte Juni endgültig als Chefredakteur bestätigte, kündigten die fünf stellvertretenden Chefredakteure, die bis dahin versucht hatten, die Unabhängigkeit der Redaktion zu erhalten. Etliche andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten dies bereits in den Wochen nach Schmarows Amtsantritt getan.  

Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Platz 149 von 180 Staaten.



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