Russland 01.09.2022

Spickzettel für bedrohte Medienschaffende

Galina Arapova, Direktorin und leitende Medienanwältin des Mass Media Defense Centers. © Mass Media Defense Center

Vor sechs Monaten unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin zwei Gesetze, die sowohl Antikriegsproteste als auch die unabhängige Kriegsberichterstattung kriminalisieren. Grundlage dafür ist das Verbot, sogenannte Fake News zu verbreiten. Seit dieser Entscheidung vom 4. März 2022 kann bereits die Verwendung des Wortes “Krieg” mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren geahndet werden. Innerhalb weniger Tage stellten auch die letzten unabhängigen Medien ihre Arbeit in Russland ein. Um bedrohten Medienschaffenden in Russland dabei zu helfen, ein für sie und ihre Bedürfnisse geeignetes Exilland auszuwählen, hat der JX Fund - European Fund for Journalism in Exile gemeinsam mit dem Mass Media Defence Center aus Woronesch nun die Informationsplattform Shpargalka | Exile – Russisch für Spickzettel – ins Leben gerufen. Viele Medien können – von der Ausreise bis zu ihrer Neugründung im Exil – davon profitieren.

Wegweisende Informationen für den Gang ins Exil

Welche Dokumente brauche ich, um in ein anderes Land einzureisen? Kann ich dort ein Bankkonto eröffnen? Wie bekomme ich eine Arbeitserlaubnis? Was muss ich tun, um im Exil ein Medienunternehmen zu registrieren? Muss ich sowohl in Russland als auch in meinem derzeitigen oder zukünftigen Aufenthaltsland Steuern zahlen?

Diese und andere Fragen sind für die Wahl eines Exilortes von essentieller Bedeutung. Wer zuverlässige Antworten auf jene Fragen sucht, muss sich jedoch in den meisten Fällen durch ein weit verzweigtes Dickicht aus Paragraphen kämpfen und läuft dort Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen – zumal die Informationen von den Behörden selten auf Englisch und noch seltener auf Russisch zur Verfügung gestellt werden.

Die Informationsplattform Shpargalka | Exile versammelt nun Antworten auf 21 der drängendsten Fragen. Alle Fragen wurden von Juristinnen und Juristen aus insgesamt zwölf Ländern beantwortet, der Katalog soll fortlaufend erweitert werden. Die aktuelle Liste umfasst derzeit Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Deutschland, Georgien, Israel, Kasachstan, Lettland, Montenegro, Polen, Serbien und die Türkei. Die Informationen werden regelmäßig aktualisiert, da sich die Einreisebestimmungen und rechtlichen Rahmenbedingungen vieler Länder in Anbetracht der angespannten internationalen Lage häufig ändern.

“Shpargalka | Exile beantwortet alle Fragen, die uns in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der Arbeit im Exil gestellt worden sind. Die Informationsplattform ist ein Hilfsmittel, das Zeit bei der Suche nach aktuellen rechtlichen Informationen spart und das Risiko eines Verstoßes gegen die Gesetze anderer Länder verringert”, sagte Galina Arapova, Direktorin und leitende Medienanwältin des Mass Media Defense Centers.

Von der Flucht bis zur Neugründung

Sobald alle individuellen aufenthalts- und sozialrechtlichen Fragen geklärt sind, können sich die Journalistinnen und Journalisten der Frage widmen, in welcher Form sie ihr Medium im Exil wieder aufbauen wollen. Einige beschließen die Gründung eines neuen Medienprojekts. Welche Rechtsformen jeweils in Frage kommen und welche steuerrechtlichen Implikationen mit den verschiedenen Rechtsformen einhergehen, ist ebenfalls Bestandteil der Informationsplattform Shpargalka.

In den vergangenen Monaten hat der JX Fund 14 Medien beim Wiederaufbau sowie fünf Neugründungen und den Aufbau eines Mediahubs in Tblisi unterstützt. Neben großen Medien wie der Novaya Gazeta Europe gehören auch kleinere Medien mit gesellschaftlichen oder regionalen Fragestellungen zum Portfolio des JX Funds, der langfristig den Aufbau einer diversifizierten Exilmedienlandschaft mit unterschiedlichen Zielpublika anstrebt.

Zerstörte Materie neu denken

Welche Art von Architektur entsteht nach einem Krieg? Wie werden provisorische Unterkünfte auf dem Fundament einer zerstörten Umgebung gestaltet? In welchem Verhältnis stehen Architektur und Gesellschaft?

Derlei Fragen behandelt das mit der Unterstützung des JX Funds gegründete Medium PYL – Russisch für “Staub” – dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter derzeit noch über mehrere Länder verteilt sind. “Unsere offizielle Neugründung ist für Anfang nächsten Jahres in Berlin geplant”, sagte die Chefredakteurin des Magazins. “Eine NGO wird uns dabei unterstützen, unsere Spenden sowohl rechtlich als auch buchhalterisch zu koordinieren.”

Am 12. August 2022 ging PYL mit insgesamt drei Reportagen über die Wiederaufbaupläne in der Ukraine sowie die Restauration Südossetiens online. Zwei der ursprünglich auf Russisch verfassten Reportagen sind ins Englische übersetzt, jene über den Wiederaufbau fünf ukrainischer Häuser gibt es darüber hinaus auch in ukrainischer Sprache.

Bitte im Job bleiben!

Ein anderes vom JX Fund unterstütztes Projekt ist Spektr.Press. Die unabhängige Nachrichtenplattform wurde 2014 im Exil gegründet und berichtet aktuell überwiegend über die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sowie die diesbezüglichen politischen Entwicklungen in Russland und Europa. Dabei versucht Spektr.Press auch jenen Kolleginnen und Kollegen zu helfen, die derzeit aus Russland fliehen. Gleichzeitig soll mit ihrer Hilfe das eigene Informationsangebot gestärkt werden.

"Ihr größtes und dringendstes Bedürfnis ist es, in neuen Ländern Arbeit zu finden, um ihre journalistischen Karrieren fortsetzen zu können. Andernfalls werden sie innerhalb weniger Monate ihren Beruf aufgeben müssen. Auf der anderen Seite will Spektr.Press seine Kapazitäten so schnell wie möglich ausbauen, da wir über eine große Welle von Ereignissen und eine massive Kriegsagenda in der Ukraine berichten müssen,” erklärt Anton Lysenkov, Gründer und Chefredakteur von Spektr.Press.

Für all diese Medien und Medienschaffenden bildet Shpargalka | Exile nun eine erste Grundlage, um die rechtlichen Bedingungen und Risiken eines Ortswechsels und der Arbeit in verschiedenen Rechtsordnungen zu verstehen.

Über den JX Fund - European Fund for Journalism in Exile

Der JX Fund wurde im April 2022 gemeinsam von Reporter ohne Grenzen, der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung ins Leben gerufen, um Medienschaffende unmittelbar nach ihrer Flucht aus Kriegs- und Krisengebieten schnell und unbürokratisch dabei zu unterstützen, ihre Arbeit aus dem Exil heraus fortzusetzen. Er will unabhängige Exilmedien über eine Phase internationaler Aufmerksamkeit hinaus stärken und den nachhaltigen Aufbau neuer Redaktionsstrukturen fördern, damit sie ihr Publikum in den Heimatländern weiter erreichen können. Nur eine unabhängige Berichterstattung kann künftige demokratische Entwicklungen in diesen Ländern ermöglichen.

Für regelmäßige Informationen zu der Arbeit des JX Funds abonnieren Sie unseren Newsletter unter jx-fund.org.



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