Afghanistan
23.12.2021
Taliban zerstören Medienpluralismus
Fast die Hälfte der Medien geschlossen, die meisten Journalistinnen ohne Arbeit: Die Machtübernahme der Taliban hat dramatische Auswirkungen auf die Medienlandschaft in Afghanistan. Das zeigt eine Untersuchung von Reporter ohne Grenzen (RSF) und der lokalen Partnerorganisation Afghan Independent Journalists Association (AIJA). So mussten seit dem 15. August 231 Medien schließen, und mehr als 6400 Medienschaffende haben ihren Job verloren. Am stärksten betroffen sind Frauen im Journalismus: Vier von fünf Journalistinnen arbeiten nicht weiter in ihrem Beruf.
„Unsere Studie zeigt, dass der Medienpluralismus in Afghanistan am Boden liegt. Die zahlreichen Medienschließungen und Jobverluste für Journalistinnen und Journalisten sind eine Katastrophe für die Pressefreiheit vor Ort und verhindern, dass sich die Bevölkerung unabhängig informieren kann. Gehen die Entwicklungen genauso weiter, werden die Medien und Medienschaffenden, die noch arbeiten können, das gleiche Schicksal erleiden“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.
„Unsere Studie muss auch die neue Bundesregierung wachrütteln. Sie muss alle Hebel in Bewegung setzen, um afghanischen Medienschaffenden zu helfen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte Anfang Dezember, Deutschland müsse der besonderen Verantwortung für Afghanistan gerecht werden. Das bedeute auch, bedrohten Menschen weiter bei der Ausreise zu helfen. Diesen Worten müssen Taten folgen. Noch immer befinden sich zahlreiche Journalistinnen und Journalisten in Afghanistan in akuter Lebensgefahr.“
Die Machtübernahme der Taliban hat die Medienlandschaft Afghanistans drastisch verändert. Von den 543 Medien, die zu Beginn des Sommers 2021 in Afghanistan registriert waren, existierten Ende November nur noch 312. Damit sind innerhalb von drei Monaten 43 Prozent der afghanischen Medien verschwunden.
Noch vor vier Monaten gab es in den meisten afghanischen Provinzen mindestens zehn private Medien, doch inzwischen gibt es in einigen Regionen fast gar keine Lokalmedien mehr. In der nördlichen Provinz Parwan sind von den ursprünglich zehn Medien nur noch drei aktiv. In der drittgrößten Stadt Herat und der umliegenden Provinz sind nur noch 18 der 51 Medien tätig – ein Rückgang von 65 Prozent. In der Hauptstadtregion Kabul, wo die meisten Medien existierten, musste jedes zweite Medium (51 Prozent) schließen. Von den 148, die vor der Machtübernahme der Taliban arbeiteten, sind nur noch 72 in Betrieb.
Journalistinnen und Journalisten ohne Job
Die Entwicklungen haben gravierende Auswirkungen für Personen, die im Mediensektor beschäftigt waren. Von den 10.790 Menschen, die Anfang August für afghanische Medien arbeiteten (8.290 Männer und 2.490 Frauen), waren zum Zeitpunkt der Erhebung nur noch 4.360 (3.950 Männer und 410 Frauen) beschäftigt. Frauen im Journalismus sind am stärksten betroffen: Mehr als vier von fünf (84 Prozent) haben seit der Machtübernahme der Taliban ihren Arbeitsplatz verloren, bei den Männern war es jeder zweite (52 Prozent).
In sechs Provinzen haben drei Viertel aller männlichen Journalisten ihren Job verloren. In 15 der 34 Provinzen des Landes arbeitet gar keine Journalistin mehr. In der nördlichen Provinz Jowzjan etwa waren vor Mitte August 19 Medien aktiv, die insgesamt 112 Frauen beschäftigten. Heute arbeitet keine einzige Frau mehr in den 12 Medien, die dort noch tätig sind.
Die Taliban erlegen den lokalen Medien Bedingungen auf. Dazu gehört auch, dass diese keine Journalistinnen mehr einstellen dürfen. Infolge dessen hat sich in Afghanistan eine Medienlandschaft entwickelt, in der Frauen im Journalismus weitgehend fehlen. Das gilt selbst für Regionen wie Kabul, wo traditionell mehr Journalistinnen arbeiteten. Weniger als 100 von ihnen trauten sich in den Wochen nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul und der Aufforderung an Frauen, zu Hause zu bleiben, wieder an die Arbeit. Manche kehrten in den vergangenen zwei Monaten in ihre Medien zurück. Doch von den 1.190 Journalistinnen und Medienmitarbeiterinnen, die Anfang August in der Hauptstadt gezählt wurden, arbeiten heute nur noch 320 – ein Rückgang um 73 Prozent.
Ähnlich hoch ist der Rückgang in Nangarhar, der Provinz, in der in weniger als einem Jahr vier Medienmitarbeiterinnen getötet wurden. Von den 65 Frauen, die Anfang August noch für Medien vor Ort arbeiteten, sind heute nur noch 17 in dem Beruf tätig. Noch deutlicher wird die Entwicklung in den Provinzen Balkh und Herat, wo die Zahl der Journalistinnen und Medienmitarbeiterinnen um 98 Prozent bzw. 94 Prozent zurückgegangen ist. Die relative Stabilität in beiden Provinzen hatte die Entwicklung von Medien und die Beschäftigung von Frauen in den Unternehmen gefördert. Doch die Machtübernahme der Taliban hat diese Fortschritte der vergangenen 20 Jahre innerhalb weniger Tage zunichte gemacht.
Hinzu kommt, dass hunderte von Journalistinnen und Journalisten seit August Afghanistan verlassen haben. Sie haben Angst vor Repressalien oder sehen keine Möglichkeit, unter den Umständen weiter als Medienschaffende zu arbeiten.
Druck auf Medienschaffende durch die neuen Behörden
Seit der Machtübernahme der Taliban haben sich die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende im ganzen Land deutlich verschlechtert. So müssen sich Medien etwa an „elf Regeln für den Journalismus“ halten, die der Interimsdirektor des Medieninformationszentrums der de-facto-Regierung der Taliban im September vorgestellt hatte. Medienschaffende waren in die Entwicklung der Regeln nicht eingebunden. Auf den ersten Blick erscheinen einige der vage formulierten Vorgaben unproblematisch, etwa wenn sie Medienschaffende verpflichten, die Wahrheit zu respektieren und nicht zu verfälschen. In ihrer Gänze ebnen sie jedoch den Weg zu Zensur und Verfolgung und sind damit hochgefährlich.
In einigen Provinzen hat die Verpflichtung, Nachrichten- und Musiksendungen durch Programme mit ausschließlich religiösem Inhalt zu ersetzen, zudem dazu geführt, dass manche lokale Radiosender ihren Betrieb eingestellt haben.
RSF zählt die Taliban zu den größten Feinden der Pressefreiheit weltweit. Die Organisation registrierte seit dem 15. August etwa 40 Fälle von Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten durch die Taliban. Anfang September etwa wurden mehrere Journalisten stundenlang festgehalten und teils schwer misshandelt, während sie über den Protest von Frauen in Kabul berichteten. Die Etilaatroz-Journalisten Nematullah Naqdi und Taqi Daryabi wurden mit Kabeln verprügelt, Naqdi musste im Krankenhaus behandelt werden.
Wirtschaftliche Folgen
Neben den Schikanen durch die Taliban haben Medienbesitzerinnen und -besitzer mit wirtschaftlichen Einschränkungen zu kämpfen. Viele Medien erhielten nationale und internationale Fördermittel, die mit der Machtübernahme durch die Taliban ausliefen. Auch der Verlust von Werbeeinnahmen hat Medien schwer getroffen. In der Provinz Nangarhar, wo 35 Prozent der Medien eingestellt wurden, sagte der Besitzer eines im Oktober geschlossenen Radiosenders, die wirtschaftliche Lage sei so schlecht, dass die meisten Geschäftsleute kein Geld mehr für Werbung ausgeben könnten.
Der Einsatz von Reporter ohne Grenzen für afghanische Medienschaffende ist der größte Kraftakt in der Geschichte der Organisation. Nachdem RSF es geschafft hatte, insgesamt 150 Namen auf die Evakuierungsliste des Auswärtigen Amtes setzen zu lassen, gelangen immer mehr hochgradig bedrohte Journalistinnen und Journalisten aus Afghanistan nach Deutschland. Die engsten Angehörigen mit eingerechnet, handelt es sich um knapp 500 Menschen, die Aufnahmezusagen von Deutschland bekommen haben. Knapp 300 von ihnen befinden sich bereits in Deutschland oder warten in Nachbarländern Afghanistans auf ihr Visaverfahren. RSF kümmert sich in enger Abstimmung mit der Kabul Luftbrücke und den deutschen Behörden um ihre Einreise. Die von RSF betreuten Medienschaffenden gehören zu 2600 von Deutschland aufgenommenen Personen und ihren Familien auf der sogenannten Menschenrechtsliste.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die vor der de-facto Machtübernahme der Taliban veröffentlicht wurde, steht Afghanistan auf Platz 122 von 180 Staaten.
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