Belarus 04.06.2020

Unabhängige Berichte zulassen

Alexander Lukaschenko © picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Reporter ohne Grenzen (RSF) ruft den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko auf, bei der Präsidentschaftswahl am 9. August unabhängige Berichterstattung über gesellschaftlich relevante Themen zuzulassen. Derzeit versucht das Regime rigoros, Berichte über mögliche Gegenkandidaten und -kandidatinnen des amtierenden Präsidenten zu unterdrücken. Mindestens sechs Journalisten wurden deshalb in den vergangenen Wochen festgenommen und zu Arreststrafen oder Geldbußen verurteilt, darunter auch ein Journalist, der mit der Deutschen Welle zusammenarbeitet. Medienschaffende, die unabhängig über die Corona-Pandemie und den Zustand des Gesundheitssystems berichten, werden belangt, weil sie angeblich „Panik schürten“ oder ihrem Land „Schaden zufügten“.

„Vor einer Wahl Berichte über mögliche Gegenkandidaten und -kandidatinnen zu unterdrücken, ist ein Signal von Schwäche und zeugt nicht von politischer Weitsicht“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. „Viele Menschen in Belarus sind zu Recht aufgebracht über die politische Führung, denn indem Behörden versuchen, ein staatliches Informationsmonopol aufrechtzuerhalten und das tatsächliche Ausmaß der Corona-Pandemie zu verschleiern, schaden sie zu allererst der Bevölkerung.“

Kritische Diskussionen nur „in der Küche“ erlaubt

Am Montag hatte Lukaschenko bei einem Treffen mit dem Chef des belarussischen Geheimdienstes KGB betont, er werde nicht zulassen, dass die Ordnung im Land gestört werde und dazu notfalls auch das Militär zu Hilfe holen. Über „bestimmte Dinge“ könnten die Menschen „in ihren Küchen“ diskutieren, aber nicht öffentlich, so Lukaschenko. Zur gleichen Zeit bestellte das Informationsministerium die Chefredakteure mehrerer unabhängiger Medien ein und erinnerte sie an das Verbot, Umfragen unter Leserinnen und Lesern zu veröffentlichen, zum Beispiel über die politische Stimmung vor der Wahl.

In den vergangenen Wochen wurden mindestens sechs Journalisten zeitweise festgenommen und zu Arreststrafen oder hohen Geldbußen verurteilt. Die meisten hatten zuvor über Kundgebungen des Bloggers und Aktivisten Sergej Tichanowski berichtet. Tichanowski betreibt seit März 2019 den Youtube-Blog Strana dlja Schisn (dt. Ein Land zum Leben), den fast 230.000 Menschen abonniert haben – fast ebenso viele wie den des unabhängigen Exil-Senders Belsat TV. In seiner wöchentlichen Sendung Realnyje Nowosti (dt. Echte Nachrichten) lässt er vor allem Menschen aus den Regionen zu Wort kommen. Am 6. Mai gab er bekannt, als Herausforderer von Präsident Lukaschenko kandidieren zu wollen, was die zentrale Wahlkommission jedoch ablehnte. Seither wurde Tichanowski mehrmals verhaftet, zuletzt am 29. Mai in Grodno.

Arreststrafen für Berichte über Regimekritiker

Sergej Petruchin, ein bekannter Videoblogger aus Brest im Südwesten von Belarus, wurde am 6. Mai auf dem Weg zu einem Treffen mit Tichanowski festgenommen. Auf seinem Youtube-Kanal Narodnyj Reportjor (dt. Volksreporter) berichtet Petruchin unter anderem über die massiven Proteste der Bevölkerung gegen den Bau einer Batterie-Fabrik in Brest. Am 8. Mai ordnete ein Gericht an, den Blogger, der über Husten und Fieber klagte, bis zur nächsten Verhandlung wenige Tage später freizulassen. Die Polizei ignorierte die Anordnung, behielt Petruchin in Gewahrsam und verweigerte ihm medizinische Hilfe. Am 11. Mai wurde der Blogger zu 15 Tagen Arrest verurteilt. Einen Tag später wurde er positiv auf Covid-19 getestet und liegt seither in Brest im Krankenhaus.

Am 7. Mai wurde in Mogiljow, der drittgrößten Stadt des Landes, der freie Journalist Michail Arschynski festgenommen. Arschynski arbeitet für den in Polen ansässigen Exil-Sender Belsat TV und die regionale Nachrichtenseite 6tv.by. Er hatte über Veranstaltungen mit Tichanowski berichtet und wurde deshalb zu insgesamt 21 Tagen Arrest verurteilt. Am 8. Mai kam, ebenfalls in Mogiljow, der freie Journalist Alexander Burakow in Gewahrsam, der unter anderem für die Deutsche Welle arbeitet. Er wurde zu zehn Tagen Arrest verurteilt und kam am 19. Mai wieder frei. Am 15. Mai wurde auch Burakows gleichnamiger Neffe festgenommen und zu zehn Tagen Arrest verurteilt – ebenfalls, weil er über die Veranstaltungen mit Tichanowski in Mogiljow berichtet hatte.

Keine Akkreditierung für unabhängige Medienschaffende

In der Region Witebsk wurde am 8. Mai der Belsat TV-Reporter Smitser Lupatsch festgenommen. Lupatsch wurde zu zehn Tagen Arrest und umgerechnet 460 Euro  Geldstrafe verurteilt, weil er ohne Akkreditierung gearbeitet und über eine Veranstaltung mit Tichanowski berichtet hatte. Der Journalist brach nach der Verhandlung zusammen und wurde mit akutem Bluthochdruck ins Krankenhaus eingeliefert. Am 26. Mai wurde Lupatsch erneut zu umgerechnet rund 410 Euro Geldstrafe verurteilt, weil er ohne Akkreditierung für Belsat TV über die Corona-Krise berichtet hatte. Sowohl RSF als auch deren Partnerorganisation, die Belarussische Journalisten Vereinigung (BAJ), haben wiederholt auf diesen Teufelskreis hingewiesen: Die belarussischen Behörden verweigern Belsat-Reporterinnen und Reportern systematisch die Akkreditierung – und belangen die Medienschaffenden dann, weil sie ohne diese arbeiten. 

Am 9. Mai wurde in Bobrujsk Ales Asiptsou, ein Reporter der unabhängigen Nachrichtenagentur BelaPAN, festgenommen. Er wollte über eine Protestaktion gegen die offizielle Parade zum „Tag des Sieges“ berichten, zu der sich in der Hauptstadt Minsk trotz Corona-Pandemie Tausende Soldaten und Schaulustige versammelten. Als Grund für seine Festnahme nannten die Behörden eine Veranstaltung mit Tichanowski am 5. Mai in Mogiljow, die nicht genehmigt gewesen sei. Asiptsou hatte darüber für BelaPAN berichtet. Er wurde zu zehn Tagen Arrest verurteilt und kam am 19. Mai wieder frei.

Kaum offizielle Informationen über Corona-Pandemie

Ende Mai wies die Belarussische Journalisten Vereinigung erneut auf die Schwierigkeiten bei der Berichterstattung über die Corona-Pandemie in Belarus hin. Zum einen erhielten Medien kaum Informationen von offiziellen Stellen. Angestellte in Krankenhäusern oder Rettungssanitäter und -sanitäterinnen dürften nicht ohne Erlaubnis des Gesundheitsministeriums mit den Medien sprechen. Laut Irina Lewschina, Chefredakteurin der unabhängigen Nachrichtenagentur BelaPAN, ist es für unabhängige Redaktionen „praktisch unmöglich, eine Stellungnahme des Gesundheitsministeriums zu erhalten“. Seit Ende April gebe das Ministerium zudem kaum noch Pressekonferenzen.

Reporterinnen und Reporter, die unabhängig recherchieren, laufen Gefahr, wegen ihrer Berichte belangt zu werden, die angeblich „Panik schürten“ oder ihrem Land „Schaden zufügten“.  So erging es dem regionalen Online-Magazin Media Polesye aus Luninez, das am 13. Mai zu einer Strafe von umgerechnet fast 1250 Euro verurteilt wurde, weil es – da offizielle Angaben fehlten – fälschlicherweise über den Tod eines Patienten berichtet hatte. Am 6. Mai entzog das Außenministerium Alexej Krutschinin, dem Korrespondenten des staatlichen russischen TV-Senders Perwyj Kanal, die Akkreditierung, nachdem er über einen Anstieg der Covid-19-Infektionen in Belarus berichtet hatte. Einen Tag später musste Krutschinin das Land verlassen.

Bekannter Investigativ-Journalist verhaftet

Am 25. März wurde der landesweit bekannte Journalist Sergej Sazuk, Chefredakteur der Nachrichtenseite Jeschednewnik, verhaftet. Drei Tage vorher hatte er in einem Text den Umgang des Präsidenten mit der Corona-Pandemie kritisiert und die von den Behörden verbreiteten Zahlen zu Covid-19-Infizierten in Frage gestellt. Lukaschenko hatte vorher angeordnet, man müsse sich um Medien „kümmern“, die über die Pandemie berichteten. Zehn Tage nach seiner Festnahme wurde Sazuk unter der Auflage, regelmäßig bei den Behörden zu erscheinen, wieder freigelassen. Der Journalist stand bereits seit Längerem im Visier der Behörden, weil er mehrfach Korruptionsskandale im belarussischen Gesundheitssystem aufgedeckt hatte. In den laufenden Ermittlungen wird Sazuk vorgeworfen, Bestechungsgeld entgegengenommen zu haben, wofür eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren droht. Anfang Juni wurde bekannt, dass inzwischen auch wegen Betrugs gegen ihn ermittelt wird.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Belarus auf Rang 153 von 180 Staaten.



nach oben