Themenschwerpunkt Osteuropa 26.11.2020

Ungebremste Erosion der Pressefreiheit

Die Ministerpräsidenten der Slowakei, Polens, Ungarns und Tschechiens bei einem Treffen der Viegrad-Gruppe. © picture alliance / PAP / Jacek Szydlowski

Während die Europäische Union um neue Instrumente zur Durchsetzung ihrer Grundwerte in den eigenen Reihen ringt, schreitet der Abbau der Pressefreiheit in einigen Mitgliedsländern ungebremst voran. In Ungarn schaltet die Regierung nach und nach wichtige unabhängige Medien aus. Nach dem größten Nachrichtenportal Index.hu hat sie derzeit den kritischen Sender Klubrádió im Visier. In Polen macht das öffentliche Fernsehen einseitig Stimmung für das Regierungslager, während unabhängige Medien mit Klagen überzogen und von Werbeeinnahmen abgeschnitten werden. In Slowenien versucht die Regierung, dem unabhängig berichtenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Mittel zu kürzen und stattdessen politisch genehme Medienunternehmer zu fördern. Auch in weiteren EU-Ländern wie Tschechien, Bulgarien und Rumänien ist die Pressefreiheit unter Druck.

Mit einem Themenschwerpunkt Osteuropa sucht Reporter ohne Grenzen (RSF) in den kommenden Wochen nach neuen Antworten auf diesen besorgniserregenden Zustand. Den Auftakt bildet an diesem Freitag (27.11.) eine Online-Veranstaltung mit Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Michal Kokot von der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza und Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Unter dem Titel „Was tun gegen die EUrosion der Pressefreiheit?“ diskutieren sie darüber, wie das EU-Grundrecht auf Medienfreiheit wirksamer als bisher durchgesetzt werden kann. In weiteren Veranstaltungen will RSF dies an ausgewählten Ländern konkretisieren.

„Die EU darf sich nicht damit abfinden, dass ihr Grundwert Pressefreiheit in den eigenen Reihen permanent mit Füßen getreten wird“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Das aktuelle Ringen um einen mit finanziellem Druck verbundenen Rechtsstaatsmechanismus zeigt, dass die bisherigen Mittel der EU zu zahm waren, um notorische Grundrechtsverächter in die Schranken zu weisen. Die EU muss ihre Möglichkeiten viel entschlossener nutzen, wenn sie nicht tatenlos zusehen will, wie unabhängige Medien in einigen ihrer Mitgliedstaaten immer weiter in die Bedeutungslosigkeit gedrängt werden.“

Anfang November hatten sich Unterhändlerinnen und Unterhändler des EU-Parlaments und der Mitgliedstaaten auf einen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus verständigt, der unter anderem bei systematischen Verstößen gegen die gemeinsamen Grundwerte künftig die Kürzung von EU-Geldern ermöglichen soll. Aus Widerstand dagegen verweigern Polen und Ungarn derzeit dem EU-Haushalt ihre Zustimmung.

Ungarn: Unabhängige Medien werden neutralisiert

In Ungarn teilte der Medienrat dem letzten unabhängigen Radiosender der Hauptstadt Budapest, Klúbradió, Anfang September mit, seine am 14. Februar 2021 auslaufende terrestrische Sendelizenz werde nicht verlängert, sondern neu ausgeschrieben. Zur Begründung verwies der Rat, bei dessen letzter Nachwahl das Parlament alle von der Opposition benannten Kandidatinnen und Kandidaten abgelehnt hatte, auf angebliche Regelverstöße etwa beim Programmanteil ungarischer Musik. Klubrádió spricht von Bagatellverstößen, für die andere Sender nicht mit vergleichbaren Sanktionen belegt worden seien.

Schon in den ersten Jahren der Regierung Orbán nach 2010 hatte es wiederholt Rechtsstreitigkeiten um die Sendelizenz für Klubrádió gegeben; erst nach einer höchstrichterlichen Entscheidung und starkem Druck der Öffentlichkeit erhielt der Sender für sieben Jahre eine Lienz zumindest für den Großraum Budapest, die nun endet.

Das Vorgehen gegen Klubrádió weckt ungute Erinnerungen an das Schicksal anderer unabhängiger Medien in Ungarn. Zuletzt verlor im Sommer das bis dahin meistgelesene ungarische Nachrichtenportal Index.hu seine Unabhängigkeit, nachdem ein Orbán-naher Unternehmer die Mehrheit an Unternehmen gekauft hatte, das das Werbegeschäft des Portals kontrolliert. Die Redaktion kündigte daraufhin praktisch geschlossen.

Ähnlich war es 2014 schon dem früheren Index-Hauptkonkurrenten Origo.hu ergangen. Wichtige Zeitungen wie Népszabadság und Magyar Nemzet wurden geschlossen oder auf Linie gebracht, die regionale Presse komplett in den Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer gebracht und im Herbst 2018 schließlich fast 500 regierungsnahe Medienunternehmen in einer einzigen Holding gebündelt. Die verbliebenen unabhängigen Medien werden bei der Vergabe von Werbebudgets öffentlicher Stellen massiv benachteiligt. Zudem beklagen sie, sie würden im Anzeigengeschäft auch von vielen Firmen und selbst von ausländischen Unternehmen aus politischem Opportunismus gemieden.

Polen: Neuer Anlauf zur „Repolonisierung“ der Medien

In Polen hat die nationalkonservative Regierung seit ihrem Antritt 2015 das öffentlich-rechtliche Fernsehen so erfolgreich zum Propagandasender umgebaut, dass es zum Beispiel vor der Präsidentenwahl im Juli oder aktuell über die Massenproteste gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts unverhohlen parteilich berichtet hat. Auch hier werden unabhängige Medien mit Anzeigenentzug und juristischen Schikanen gegängelt.

Allein die zweitgrößte polnische Zeitung Gazeta Wyborcza musste sich seit 2015 gegen rund 55 Strafverfahren und Zivilklagen unterschiedlicher Akteure einschließlich der Regierungspartei PiS erwehren, die letztlich vor allem darauf abzielen, sie von Berichten über heikle Themen abzuschrecken und ihre Ressourcen für Gerichtsverfahren zu binden. Gegen Katarzyna Wlodkowska bemühte die Justiz sogar Strafermittlungen, nachdem die Journalistin in der Gazeta Wyborcza und deren Beilage Duzy Format über Ermittlungsfehler in einem prominenten Mordfall berichtet hatte.

In seinem ersten Interview nach der Präsidentenwahl im Juli brachte PiS-Chef Jarosław Kaczyński sein seit 2015 angekündigtes Projekt einer „Repolonisierung“ der Medien wieder auf die politische Tagesordnung. Das Vorhaben – rhetorisch oft verbunden mit einer „Dekonzentration“, also der Zerschlagung von Medienunternehmen mit vielen Titeln – zielt darauf, über die Besitzverhältnisse eine Änderung der redaktionellen Linie bei wichtigen regierungskritischen Medien zu erreichen, von denen einige ganz oder teilweise in ausländischem Besitz sind.

Davon mutmaßlich betroffen wären zum Beispiel der Fernsehsender TVN und sein Nachrichtenkanal tvn24 (Discovery-Konzern, USA), die Boulevardzeitung Fakt und die polnische Ausgabe des Nachrichtenmagazins Newsweek (beide Ringier Axel Springer, Schweiz/Deutschland) sowie die Agora-Mediengruppe (Miteigentümer: Cox Enterprises, USA) mit der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Zwischenzeitlich war das Projekt „Repolonisierung“ lange in der Schublade verschwunden – mutmaßlich vor allem wegen des entschiedenen Widerstands der US-Regierung und weil ein entsprechendes Gesetz schwerlich mit EU-Recht vereinbar sein dürfte.

Medienberichten zufolge könnte die PiS nun aber versuchen, die angestrebten Regelungen versteckt in anderen Gesetzesvorhaben sozusagen unter dem Radar durchzubringen. Oder aber sie könnte eine faktische „Repolonisierung“ ganz ohne Gesetz betreiben: Angeblich verhandelt der polnische Ölkonzern Oren mit der deutschen Verlagsgruppe Passau über den Kauf von deren polnischer Tochter Polska Press, die einen Großteil der regionalen Tageszeitungen im Land sowie viele lokale Wochenblätter und Websites besitzt. Außerdem spekulieren Beobachterinnen und Beobachter, die seit Juli geltende „Netflix-Steuer“ von 1,5 Prozent auf Video-Streamingdienste könnte der Einstieg in eine schleichende „Dekonzentration“ sein, bei welcher der polnische Medienmarkt über schrittweise Steuererhöhungen unattraktiv für internationale Investoren gemacht würde.

Sorgen um den Zustand der Pressefreiheit in Polen hat zuletzt auch das harte Vorgehen der Polizei gegen Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen geweckt. Am 11. November schlugen Polizeikräfte Reporterinnen und Reporter von Newsweek Polska und Gazeta Wyborcza, die über eine verbotene Kundgebung nationalistischer Gruppen berichteten; der 74-jährige Fotograf Tomasz Gutry wurde von einem Gummigeschoss ins Gesicht getroffen und verletzt. Bei einem Protest am 18. November wurden Journalisten von OKO.press, Gazeta Wyborcza, Gazety Polskiej Codziennie und Wlodek Ciejka TV von Pfefferspray getroffen, das die Polizei gegen Demonstrierende einsetzte.

Zahlreiche Übergriffe hat es auch bei den Massenprotesten seit Ende Oktober gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts gegeben. Am Montag (23.11.) wurde die renommierte Fotojournalistin Agata Grzybowska (Agentur RATS, AP, Gazeta Wyborcza), obwohl sie ihren Presseausweis deutlich sichtbar zeigte, von der Polizei grob zu Boden geworfen und stundenlang festgehalten, nachdem sie bei einem Frauenprotest angeblich einen Polizisten absichtlich mit ihrem Kamerablitz geblendet habe. Grzybowska sieht sich nun mit dem Vorwurf konfrontiert, sie habe einen Polizisten tätlich angegriffen, was sie vehement bestreitet.

Slowenien: Öffentlich-rechtlicher Sender im Visier

In Slowenien geriert sich Janez Janša seit seiner Rückkehr in das Amt des Ministerpräsidenten im März als „Mini-Trump“, beschimpft kritische Journalisten und vor allem Journalistinnen und versucht, die redaktionelle Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Radiotelevizija Slovenija (RTV) zu brechen. Im RTV-Aufsichtsrat ließ er drei Mitglieder auswechseln; zwei weitere Neubesetzungen scheiterten am erbitterten Widerstand der Opposition. In den Programmrat von RTV ließ er gleich sechs neue, als regierungsfreundlich geltende Mitglieder wählen.

Zugleich will Janša RTV die Mittel um rund zehn Prozent kürzen – und fördert zugleich regierungsnahe private Medien, an denen oft Geschäftsleute aus dem Umfeld des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán beteiligt sind. Zuletzt verkaufte im Juli das Staatsunternehmen Telekom Slovenije seinen Anteil am Fernsehsender Planet TV an das ungarische Unternehmen TV2 Media, dessen Besitzer ebenfalls Verbindungen zu Orbáns Fidesz-Partei nachgesagt werden.

Seine Verunglimpfungen und Verschwörungstheorien verbreitet Janša nicht nur mündlich und in den sozialen Medien, sondern sogar auf der offiziellen Website der Regierung. Mitunter setzen die Medien der Regierungspartei SDS die Themen, aus denen in den sozialen Netzwerken regelrechte Schmutz- und Hetzkampagnen gegen unliebsame Medienschaffende werden. Ende Oktober verwahrten sich 22 Chefredakteurinnen und Chefredakteure wichtiger slowenischer Medien in einem offenen Brief gegen politischen Druck und gegen ständige Anschuldigungen der Regierung wegen ihrer Berichterstattung in der Corona-Krise.

Janša dürfte sich in seinem Kurs durch ein Urteil des slowenischen Verfassungsgerichts noch bestärkt sehen, das ihn im Februar vom Vorwurf der Verunglimpfung freisprach. Der Rechtsstreit drehte sich um einen Twitter-Post Janšas von 2016, in dem er – damals als Oppositionspolitiker – zwei RTV-Journalistinnen als „abgehalfterte Huren“ beschimpft hatte. Bezeichnend für das feindselige Klima ist ein Vorfall Anfang Juni, als an eine derselben beiden Journalistinnen – Eugenija Carl – ein Drohbrief mit einem weißen Pulver darin geschickt wurde, das bei ihr eine allergische Reaktion auslöste.

Auch Anhängerinnen und Anhänger von Janšas Partei SDS sind schon mit Beschimpfungen und Rempeleien gegen Medienschaffende von RTV aufgefallen. Anfang August rief der geschäftsführende Chef des Presseamts der Regierung auf Twitter dazu auf, in den sozialen Medien Journalistinnen, Journalisten und Medien anzuprangern, die „manipulativ“ berichteten.

Nach teils gewalttätigen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung Anfang November machte Innenminister Aleš Hojs die Medien mitverantwortlich für die Eskalation. Bei den Protesten wurden auch Medienschaffende angepöbelt, bedroht und angerempelt. Den Fotoreporter Borut Živulovič (Reuters u.a.) griff ein Unbekannter an und verletzte ihn am Kopf.

Justizschikanen gehören in Slowenien ebenfalls zum Repertoire der Einschüchterung. Allein Rok Snežič, ein Freund und steuerpolitischer Berater des Ministerpräsidenten, hat insgesamt 39 Verleumdungsklagen gegen drei Redaktionsmitglieder des Nachrichtenportals Necenzurirano.si eingereicht. Der Staatssekretär für nationale Sicherheit, Žan Mahnič, unterstützte Ende September das Vorgehen faktisch, indem er Ermittlungen gegen das Portal forderte.

Slowakei: Straflosigkeit für Kuciak-Mord

In der Slowakei sind mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Mord an dem Investigativjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zwar die unmittelbar Tatbeteiligten, aber nicht die Hinterleute des Verbrechens verurteilt. Im Zuge der Ermittlungen und des Prozesses wurde publik, dass der Geschäftsmann Marian Kočner mehr als zwei Dutzend Journalistinnen und Journalisten hatte ausforschen und überwachen lassen – offenbar, um sie mit verfänglichen Informationen unter Druck zu setzen.

Erst allmählich werden im Zusammenhang mit dem Kuciak-Mord korrupte Netzwerke in Justiz und Polizei zerschlagen. Der seit März regierende neue Ministerpräsident Igor Matovič hat zwar Korruption und Vetternwirtschaft den Kampf angesagt, reagiert aber empfindlich auf öffentliche Kritik. Als Journalistinnen und Journalisten ihn im Juli mit Plagiatsvorwürfen zu seiner Diplomarbeit konfrontierten, warf er unter anderem Mária Benedikovičová von der Zeitung Denník N vor, sie handle aus politischen Motiven böswillig und gegen nationale Interessen.

Auch Drohungen gegen Medienschaffende kommen weiterhin vor. Ende Juni fand der Investigativreporter Peter Sabo von Aktuality.sk, wo auch Kuciak gearbeitet hatte, eine Pistolenpatrone in seiner Post. Sabo recherchiert über organisiertes Verbrechen und hat auch über die Ermittlungen zum Mord an Kuciak berichtet.

Auftakt zur Veranstaltungsreihe „EUrosion der Pressefreiheit“

Die Podiumsdiskussion am Freitag bildet den Auftakt eines RSF-Themenschwerpunkts zur EUrosion der Pressefreiheit in Mittel- und Osteuropa. In zwei weiteren Online-Veranstaltungen wird RSF Handlungsmöglichkeiten der EU konkret mit Blick auf die Situation in Ungarn und Polen, Slowenien und der Slowakei näher beleuchten.



nach oben