Türkei 29.01.2021

Unterdrückte Pressefreiheit in Zahlen

Gefängnis Silivri
Gefängnis Silivri © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Mehmet Guzel

Dutzende Medien unter dem Einfluss der Regierung, viele Hundert kritische Artikel zensiert, Tausende unliebsame Journalistinnen und Journalisten entlassen: Die massive Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei dauert unvermindert an – und sie lässt sich in konkrete Zahlen fassen. Aus Anlass des neuen Prozesses gegen unseren Türkei-Repräsentanten Erol Önderoglu veröffentlicht Reporter ohne Grenzen Zahlen, die das Ausmaß der Repression deutlich machen.

Önderoglu und seinen beiden Mitangeklagten, der Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Sebnem Korur Financi sowie dem Autor und Journalisten Ahmet Nesin, drohen in dem am Mittwoch (3.2.) beginnenden Prozess bis zu vierzehneinhalb Jahre Haft. Weil sie 2016 jeweils für einen Tag symbolisch die Chefredaktion der inzwischen verbotenen kurdisch-türkischen Zeitung Özgür Gündem übernommen hatten, wird ihnen unter anderem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vorgeworfen. In erster Instanz waren sie 2019 freigesprochen worden, doch am 3. November 2020 ordnete ein Berufungsgericht eine Neuauflage des Prozesses an.

Die folgenden Zahlen hat RSF mit Unterstützung ihrer türkischen Partnerorganisation Bianet zusammengestellt.

90 Prozent
der Medien in der Türkei werden von regierungsnahen Geschäftsleuten kontrolliert.

1358
Online-Artikel oder Links zu Artikeln wurden im Jahr 2020 auf Beschluss von Gerichten und auf Antrag von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, seines Sohnes Bilal Erdogan, seines Schwiegersohnes Berat Albayrak oder regierungsnaher Geschäftsleute, Politikerinnen und Politiker gelöscht.

3436
Journalistinnen und Journalisten wurden in den vergangenen viereinhalb Jahren von türkischen Medien entlassen. Allein 2020 waren es 215.

276
Tage lang wurde kritischen Zeitungen 2020 Werbung staatlicher Institutionen verweigert und damit eine überlebenswichtige Einnahmequelle entzogen.

Mehr als 200
Medienschaffende saßen in der Türkei im Laufe der vergangenen viereinhalb Jahre für kürzere oder längere Zeit wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, derzeit sind es 13. Damit ist die Türkei eines der Länder, in denen weltweit die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert sind.

48
Journalistinnen und Journalisten verbrachten im Jahr 2020 jeweils mindestens einen Tag in Polizeigewahrsam. Sie wurden festgenommen, weil sie über Themen wie die Situation syrischer Geflüchteter, die Maßnahmen der Regierung gegen die Covid-19-Pandemie oder die Kurdenfrage berichtet hatten.

27,5 Jahre
Haft verhängte ein Gericht in Istanbul am 23. Dezember 2020 gegen Can Dündar, den ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet. Dies ist eine der längsten Gefängnisstrafen, die in der Türkei jemals gegen eine Journalistin oder einen Journalisten angeordnet wurden. Dündar muss die Haft nur deshalb nicht antreten, weil er in Deutschland im Exil lebt, seit er 2016 in Istanbul einen Mordversuch überlebte. Die türkische Justiz verfolgt Dündar, seit seine Zeitung 2015 über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Gruppen in Syrien berichtete. Präsident Erdogan hatte nach diesem Bericht erklärt: „Wer diesen Artikel zu verantworten hat, wird dafür teuer bezahlen. Ich werde ihn nicht davonkommen lassen.“

71
Jahre alt ist der älteste derzeit inhaftierte Journalist der Türkei, Ahmet Altan. Obwohl das türkische Verfassungsgericht die 2018 verhängten Strafen für ihn, seinen Bruder Mehmet Altan und den Journalisten Nazli Ilicak im Juli 2019 aufhob, wird er immer noch im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul festgehalten. Den dreien wurde vorgeworfen, sie hätten mit dem Putschversuch von 2016 sympathisiert und bei einem Fernsehauftritt „unterschwellige Botschaften“ an die Putschenden übermittelt.

63
Journalistinnen und Journalisten wurden gemäß Paragraf 299 des türkischen Strafrechts wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ verurteilt, seit Recep Tayyip Erdogan dieses Amt im August 2014 übernahm. Oft werden Medienschaffende auch nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilt, in der Regel wegen Unterstützung einer verbotenen Organisation oder Mitgliedschaft darin. Wirtschaftsjournalistinnen und -journalisten werden auch mit Hilfe des Banken- und des Kapitalmarktgesetzes verfolgt.

128.000 Euro
beträgt die Summe der Entschädigungen an acht Journalisten der Zeitung Cumhuriyet, zu der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei am 10. November 2020 verurteilt hat. Das Gericht urteilte, dass der türkische Staat sie 2016 fast ein Jahr lang willkürlich inhaftiert hatte. In den vergangenen viereinhalb Jahren hat das Gericht die Türkei zu insgesamt 234.760 Euro Entschädigung an Journalistinnen und Journalisten verurteilt.

139
tätliche Angriffe auf türkische Journalistinnen und Journalisten gab es seit 2016 mindestens. Allein im Jahr 2020 wurden 18 Medienschaffende angegriffen.

160
Medien mussten seit dem Putschversuch von 2016 schließen. Der damals verhängte Ausnahmezustand wurde zum Vorgehen nicht nur gegen jene Medien genutzt, denen Sympathien für den Prediger Fethullah Gülen nachgesagt wurden, dem die türkische Regierung den Putschversuch anlastet. Die Maßnahmen richteten sich ebenso gegen als pro-kurdisch geltende Medien wie den Fernsehsender IMC TV und linksgerichtete Medien wie Hayatin Sesi TV. Beide Sender kämpfen seit mehr als vier Jahren juristisch darum, ihren Betrieb wieder aufnehmen zu dürfen.

154.
Platz von 180 Ländern: So schlecht schneidet die Türkei in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit ab.




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