Urteil im Fall Semsrott
18.10.2024
Schwacher Trost für die Pressefreiheit
Das Landgericht Berlin hat Arne Semsrott, den Chefredakteur der Rechercheplattform FragDenStaat, schuldig gesprochen. Das Gericht verwarnte ihn und behielt sich eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen vor. Semsrott stand vor Gericht, weil er im Sommer 2023 Dokumente aus einem laufenden Strafverfahren gegen die Letzte Generation veröffentlicht hatte. Die Staatsanwaltschaft Berlin warf dem Journalisten vor, damit gegen den Paragraphen 353d des Strafgesetzbuches (StGB) verstoßen zu haben. Reporter ohne Grenzen (RSF) sieht in der Entscheidung, trotz der ausführlichen Abwägung des Gerichts, ein bedenkliches Signal für die Pressefreiheit in Deutschland – aber auch eine Chance, dass das Bundesverfassungsgericht den umstrittenen Paragraphen für verfassungswidrig erklärt.
„Dass das Gericht Arne Semsrott nur verwarnt hat, zeigt einerseits, dass es die Pressefreiheit ernst nimmt. Andererseits bleibt die Unsicherheit für Medienschaffende, die ihre Berichterstattung durch wörtliche Zitate präzise machen wollen”, sagt Nicola Bier, Rechtsreferentin von RSF. „In seiner aktuellen Form erschwert und bedroht Paragraph 353d Nr. 3 weiter die journalistische Arbeit und greift unverhältnismäßig in die Pressefreiheit ein.”
Gemeinsam mit FragDenStaat, der Gesellschaft für Freiheitsrechte und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen hat RSF Anfang des Jahres das Bundesjustizministerium aufgefordert, den nicht mehr zeitgemäßen Paragraphen abzuschaffen, mindestens aber zu reformieren. Laut Franziska Oehmer-Pedrazzi, Expertin für Medienrecht und Digitalisierung, die auch als Sachverständige im Verfahren gegen Arne Semsrott zu Wort kam, erhöhe direktes Zitieren die Glaubwürdigkeit journalistischer Berichterstattung. Gerade in Zeiten von Desinformation sei das Einbeziehen von Originalquellen besonders wichtig.
Arne Semsrott hatte im August 2023 über Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Generation und gegen einen Journalisten des freien Radiosenders Radio Dreyeckland berichtet und – eingebettet in seinen Text – die dort thematisierten Gerichtsbeschlüsse veröffentlicht. Er wusste, dass er damit riskierte, sich wegen des umstrittenen Tatbestandes strafbar zu machen und beantragte beim Landgericht, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des Straftatbestandes einzuholen. Das Landgericht lehnte das ab, da es Paragraph 353d nicht für verfassungswidrig hält.
Arne Semsrott ist bei weitem nicht der einzige Journalist, der nach einer Veröffentlichung auf Grundlage des überkommenen Paragraphen strafverfolgt wurde: Das Amtsgericht Hamburg verhängte am 2. September 2024 eine Geldstrafe in Höhe von 2.600 Euro gegen den Investigativjournalisten Carsten Janz. Nach einem Amoklauf hatte er über die Durchsuchung bei einem Beschuldigten berichtet und den Durchsuchungsbeschluss des Landgerichts Hamburg in seinem Text für t-online veröffentlicht. Gegen seine Verurteilung legte er Berufung ein.
Vor Gericht sprach Arne Semsrott von „absurden Verrenkungen”, die Medienschaffende wegen des Veröffentlichungsverbots vornehmen müssten. Er kündigte an, gegen das Urteil Revision einzulegen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz 10 von 180 Staaten.
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