Überwachung
19.05.2021
Hackingbefugnisse für Verfassungsschutz und BND
Reporter ohne Grenzen warnt vor der Verabschiedung eines weithin als verfassungswidrig eingestuften Nachrichtendienstgesetzes, das die Vertraulichkeit journalistischer Kommunikation bedroht. Im Eiltempo treiben die Regierungsfraktionen im Bundestag derzeit den parlamentarischen Prozess zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts voran, das den Nachrichtendiensten weitreichende Möglichkeiten zur Überwachung von Online-Kommunikation einräumen soll. Auch Journalistinnen und Journalisten sollen, anders als andere Berufsgeheimnisträgergruppen, mithilfe sogenannter Staatstrojaner abgehört werden dürfen, trotz des erheblichen Missbrauchsrisikos und Zweifeln an der Wirksamkeit der Nachrichtendienstkontrolle. Das Vertrauen potenzieller Quellen in die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation mit Medienschaffenden würde massiv untergraben. Die scharfe Kritik zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, betroffener Kommunikationsanbieter und zuletzt auch der im Innenausschuss angehörten Rechtsexperten am Gesetzentwurf blieb bisher ungehört.
„Statt das öffentliche Vertrauen in die Arbeit der Nachrichtendienste zu stärken, schaffen die Regierungsfraktionen völlig übereilt immer weitreichendere Überwachungsmöglichkeiten, deren Verfassungsmäßigkeit und Notwendigkeit in Frage steht“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Sachverständige aus Zivilgesellschaft, Rechtswissenschaft und IT-Wirtschaft sind sich einig, dass das Gesetz in dieser Form nicht kommen darf. Das Gesetz nun entgegen allen Warnungen zu verabschieden, wäre zutiefst undemokratisch.“
Nach monatelangem Stillstand in den Verhandlungen zwischen Union und SPD einigten sich die Fraktionen Anfang Mai darauf, die Befugnisse von Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) um die Möglichkeit des Hackings digitaler Geräte zur Überwachung verschlüsselter Chats und Online-Telefonate zu erweitern. Mithilfe von Spähsoftware sollen sich Geheimdienstmitarbeitende künftig Zugang zu Smartphones und Computern verschaffen dürfen und Chatnachrichten mitlesen, noch bevor sie über Messengerdienste wie WhatsApp oder Signal verschlüsselt versendet werden. Besonders umstritten ist die zusätzliche Erweiterung um den Zugriff auf gespeicherte Nachrichten, die seit dem Zeitpunkt der Bewilligung der Überwachungsmaßnahme versendet wurden („Quellen-TKÜ plus“). Sie weicht die ohnehin rein juristische Grenze zwischen dem Mitschneiden laufender Kommunikation und der allumfassenden Durchsuchung eines digitalen Gerätes zusätzlich auf. Praktisch basieren beide Methoden auf dem verdeckten Eindringen in ein Gerät, mithilfe dessen nicht nur Kommunikation abgehört oder Dateien eingesehen werden können, sondern Dokumente theoretisch auch verändert oder fremde Dateien platziert werden könnten. Eben dieses Missbrauchspotenzial stand im Fokus mehrerer Sachverständigenaussagen im Innenausschuss. Man laufe mit dem Gesetz „sehenden Auges in die Verfassungswidrigkeit“, bilanzierte der Göttinger Rechtsexperte Benjamin Rusteberg.
Reporter ohne Grenzen hat wiederholt auf die besonderen Gefahren für die Medienfreiheit hingewiesen. Journalistische Schutzrechte würden im digitalen Raum zunehmend ausgehöhlt, das Vertrauensverhältnis zwischen potenziellen Informantinnen und Informanten und Medienschaffenden beschädigt. Dass die Nachrichtendienste Sicherheitslücken gezielt offenhalten und ausnutzen dürfen, bedrohe zudem der IT-Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger.
Im Gegensatz zu den wachsenden technischen Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden wurde die Nachrichtendienstkontrolle kaum gestärkt. Es steht daher weiterhin in Frage, ob die zunehmend zersplitterte Kontrollarchitektur angesichts immer weitreichenderer Möglichkeiten der verdeckten digitalen Überwachung in der Lage ist, unverhältnismäßige Eingriffe in die Privatsphäre von Bürgerinnen und Bürgern zu erkennen und wirksam zu sanktionieren.
Mangelnde Transparenz- und Informationspflichten der Dienste hindern möglicherweise Betroffene zugleich daran, sich auf dem Rechtsweg gegen Überwachungsmaßnahmen zu wehren. Gegen diesen Missstand geht Reporter ohne Grenzen derzeit mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor, zu der die Bundesregierung noch in diesem Frühjahr Stellung nehmen muss.
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