Ukraine-Krieg
09.03.2022
Journalisten riskieren ihr Leben
Seit dem Beginn der russischen Invasion vor weniger als zwei Wochen sind in der Ukraine mehrere Medienteams unter Beschuss geraten und vier Journalisten durch Schüsse verletzt worden. Reporter ohne Grenzen (RSF) appelliert erneut an die russischen und ukrainischen Behörden, ihren internationalen Verpflichtungen zur Gewährleistung der Sicherheit von Medienschaffenden nachzukommen, und fordert sie auf, größtmögliche Vorsicht walten zu lassen.
Mutmaßliche Mitglieder eines russischen Spezialkommandos schossen am Sonntag (06.03.) auf den Schweizer Fotografen Guillaume Briquet, kurz nachdem er einen ukrainischen Kontrollpunkt auf einer Straße in Richtung der Stadt Mykolajiw passiert hatte. Die Schüsse verfehlten seinen Kopf nur um wenige Zentimeter. Briquet berichtete über den russischen Vormarsch in der im Süden des Landes gelegenen Region. Trotz mehrerer „Presse“-Kennzeichnungen an seinem Auto und seiner kugelsicheren Weste mit der gleichen Aufschrift wurde der erfahrene Kriegsreporter anschließend von den Soldaten schikaniert. Sie stahlen ihm 3.000 Euro und seine Ausrüstung.
„Dieser Vorfall zeigt deutlich, dass Medienschaffende vor Ort trotz aller Vorschriften zu ihrem Schutz zur Zielscheibe von Kriegstreibern werden“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Sie sind Zivilistinnen und Zivilisten, die die Welt über die Kämpfe informieren. Sie müssen in der Lage sein, sicher zu arbeiten. Wir fordern alle Konfliktparteien auf, sich unverzüglich für den Schutz der Journalistinnen und Reporter vor Ort im Einklang mit dem Völkerrecht einzusetzen. Angesichts der zahlreichen Angriffe durch russische Kommandos, die als Späher vorausgeschickt wurden, empfehlen wir ihnen, extrem vorsichtig zu sein.“
Unter russischem Beschuss
„Sie waren weniger als 50 Meter entfernt“, berichtete Briquet, der durch Glassplitter von seiner Windschutzscheibe im Gesicht und am Arm verletzt wurde, gegenüber RSF. „Sie schossen eindeutig mit dem Ziel, zu töten. Wenn ich mich nicht geduckt hätte, wäre ich getroffen worden. Ich bin schon in anderen Kriegsgebieten beschossen worden, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Wer im Land unterwegs ist und keine Erfahrung in der Kriegsberichterstattung hat, ist in tödlicher Gefahr.“
Ein Team des in London ansässigen panarabischen Fernsehsenders Al-Arabi TV, Reporter Adnan Can und Kameramann Habip Demirci, geriet am 6. März in Irpin, einem Vorort von Kiew, unter russischen Beschuss, obwohl sie eine weiße Flagge und „Presse“-Schilder an ihrem Auto befestigt hatten. Die beiden Journalisten mussten sich während der Kämpfe in der Stadt bei Anwohnerinnen und Anwohnern verstecken.
Ein Team des britischen Fernsehsenders Sky News, bestehend aus drei britischen Journalisten, einer britischen Journalistin und einem ukrainischen Journalisten, geriet am 28. Februar auf dem Weg nach Bucha am Stadtrand von Kiew unter Beschuss; mutmaßlich durch eine russische Aufklärungseinheit. Der Leiter des Teams, der Reporter Stuart Ramsay, wurde schwer im unteren Rückenbereich getroffen. Die Schutzweste des Kameramanns Richie Mockler fing zwei weitere Schüsse ab. Als die Salven trotz ihrer Rufe, dass sie Journalistinnen und Journalisten seien, und trotz ihrer deutlichen Kennzeichnung als Presseteam nicht aufhörten, mussten sie ihr Auto verlassen und in Deckung gehen.
Mehrere Schussverletzungen nach Angriff auf dänische Journalisten
Bereits am 26. Februar waren die Journalisten Stefan Weichert und Emil Filtenborg Mikkelsen verletzt worden. Die Reporter der dänischen Zeitung Ekstra-Bladet waren in der nordöstlichen Stadt Ochtyrka unter Beschuss geraten. „Der Schütze befand sich etwa 15 Meter hinter unserem Auto“, sagte Weichert. „Wir konnten ihn nicht identifizieren, aber er kann das ‚Presse‘-Schild nicht übersehen haben, das deutlich an unserem Auto angebracht war. Einige Zentimeter weiter, und diese Schulterwunde hätte mich fast das Leben gekostet.“ Weichert befindet sich jetzt in einem dänischen Krankenhaus. Sein Kollege Emil Filtenborg Mikkelsen erlitt bei dem gleichen Angriff vier Schusswunden.
Vojtech Bohac und Majda Slamova, ein Journalist und eine Journalistin für das tschechische Medium Voxpot, und zwei ukrainische Journalisten von Central TV hatten mehr Glück und blieben unverletzt. Sie wurden am 3. März von russischen Soldaten mit AK-47-Sturmgewehren beschossen, als sie in Makariw, einer vor Kiew gelegenen Stadt, gemeinsam in einem Auto unterwegs waren.
Die russischen Streitkräfte haben nicht nur mit scharfer Munition auf Reporterinnen und Reporter geschossen, sondern auch Telekommunikationsantennen angegriffen, um die Verbreitung ukrainischer Fernseh- und Radiosendungen zu verhindern. Vier Radio- und Fernsehtürme – in Kiew, Korosten, Lyssytschansk und Charkiw – waren das Ziel russischer Angriffe. Mindestens 32 Fernsehsender und mehrere Dutzend nationale Radiosender waren betroffen. Ewgeni Sakun, ein Kameramann des lokalen Fernsehsenders Kyiv Live TV, befand sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Kiewer Turm und wurde getötet. RSF untersucht derzeit die genauen Umstände seines Todes.
Reporter ohne Grenzen und Free Press Unlimited arbeiten zusammen
Um ihre Bemühungen zur Unterstützung ukrainischer Journalistinnen und Journalisten zu bündeln, geht RSF ab sofort eine Kooperation mit der in Amsterdam ansässigen Organisation Free Press Unlimited (FPU) ein. FPU wird sich an den Aktivitäten des von RSF mit gegründeten Zentrums für Pressefreiheit in Lwiw beteiligen, RSF wird die FPU-Initiative Media Lifeline Ukraine unterstützen
Am 4. März kündigte RSF an, gemeinsam mit dem lokalen Partner Institut für Masseninformation (IMI) ein Zentrum für Pressefreiheit in Lwiw in der Westukraine zu gründen. Dieses Zentrum soll dazu dienen, die Verteilung von Schutzausrüstung für Medienschaffende zu koordinieren, insbesondere für kugelsichere Westen und Helme. Es soll auch Ressourcen für Journalistinnen und Reporter bereitstellen, die finanzielle oder psychologische Unterstützung suchen, und wird ein begleitendes digitales Portal einrichten, um Anfragen zu kanalisieren und den Bedarf zu bewerten.
Ebenfalls am 4. März startete FPU mit Unterstützung niederländischer Medien die Initiative Media Lifeline Ukraine, die zum Ziel hat, den freien Fluss von Informationen für die Öffentlichkeit in der Ukraine und in den Nachbarländern zu gewährleisten. Media Lifeline soll eine zentrale Anlaufstelle für alle Bedürfnisse von Partnerinnen und Journalisten in der Ukraine und darüber hinaus darstellen.
„Noch nie dagewesene Krisen erfordern noch nie dagewesene Allianzen“, sagte RSF-Generalsekretär Christophe Deloire. „FPU und RSF teilen dieselben Werte und Aufgaben, und unsere Teams widmen sich den Bedürfnissen der ukrainischen und internationalen Reporterinnen und Reporter, die über den Krieg berichten. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir weiter und schneller vorankommen.“
Ruth Kronenburg, Director of Operations bei Free Press Unlimited, ergänzte: „Die Menschen in der Ukraine müssen wissen, wo sie sich sicher aufhalten können und wo Angriffe zu erwarten sind. Die internationale Öffentlichkeit, einschließlich der Politikerinnen und Politiker, die über Sanktionen und die Beziehungen zu Russland und der Ukraine entscheiden, muss über die Geschehnisse informiert werden – etwa ob Zivilistinnen und Zivilisten angegriffen werden oder ob sich die Parteien an die Waffenruhe halten.“
RSF und FPU rufen Spenderinnen und Spender auf, sich in den kommenden Wochen an diesen Bemühungen zu beteiligen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Ukraine auf Platz 97 von 180 Staaten.
nach oben
Folgen Sie uns!