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Russland

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 162 von 180
Russland 11.10.2022

Berichte über Teilmobilisierung sind unerwünscht

Russland schikaniert unabhängige Journalisten, die über Anti-Kriegs-Proteste berichten.
Der Kreml bekämpft Berichte über Proteste gegen die Teilmobilmachung. © Mikhail Tereshchenko / picture alliance/ dpa/TASS

Verhaftungen, Einschüchterungen, Gewalt: Mindestens 20 Journalistinnen und Journalisten wurden an der Berichterstattung über Proteste gegen die Teilmobilisierung in Russland gehindert. In mehr als 42 Städten gingen Sicherheitskräfte gegen Medienschaffende vor.

„Das Regime von Wladimir Putin will jegliche Berichte über Proteste gegen die Teilmobilisierung unterdrücken“, erklärt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Journalistinnen und Journalisten, die trotzdem über Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Einberufung berichten, riskieren Festnahmen und Gerichtsprozesse.  Der Kreml muss die Attacken gegen die Medien einstellen!“

Als die Teilmobilisierung am 21. September bekanntgegeben wurde, verhaftete die Polizei in Moskau Artjom Kriger. Der Reporter hatte für den YouTube-Kanal des Nachrichtenportals Sotavision über Proteste gegen die Einberufung berichtet, trug eine Presseweste und konnte einen gültigen Presseausweis vorweisen. Ihm wurde – wie vielen festgenommenen Männern – ein Einberufungsbescheid ausgehändigt. Ein Gericht verurteilte ihn zu acht Tagen Haft wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration. Zwei Tage nach Krigers Festnahme wurde in der russischen Hauptstadt Ksenia Chabibulina vom Nachrichtenportal Baza festgenommen. Sie hatte vor einer Wehrdienststelle einberufene junge Männer interviewt. Die Polizei verhörte Chabibulina und ließ sie am selben Tag wieder frei.

Polizei bricht in Wohnung von Journalistin ein

In Sankt Petersburg drangen Polizisten in den frühen Morgenstunden des 24. September in die Wohnung der Fotojournalistin Wiktoria Arefjewa ein. Dabei brachen sie die Wohnungstür auf. Der Vorwurf: Die Redakteurin der Nachrichtenseite Sota soll eine Falschmeldung über einen angeblich geplanten Bombenanschlag auf das Sankt Petersburger Stadtgericht gemacht haben. Arefjewas Ausrüstung, ein Computer und Speicherkarten wurden beschlagnahmt, die Journalistin zwei Tage lang festgehalten. Sie und ihr Anwalt mussten eine Geheimhaltungsverpflichtung über die vorläufigen Ermittlungen unterzeichnen.

Für Aufsehen sorgte das rigorose Durchgreifen der Sicherheitskräfte in Dagestan im Nordkaukasus. In der russischen Teilrepublik – welche im Vergleich zu anderen russischen Regionen die höchste Zahl an Gefallenen im Ukraine-Krieg beklagt – kam es Ende September zu spontanen Protesten gegen die Teilmobilisierung. Während der Berichterstattung über eine der Kundgebungen wurde in der Republikhauptstadt Machatschkala am 26. September Julia Wischnewetskaja verhaftet. Die freie Korrespondentin des US-finanzierten Senders Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) wurde wegen angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften zur Teilnahme an einer Kundgebung zu fünf Tagen Haft verurteilt. Die Strafe saß sie in einer Haftanstalt im Umland von Machatschkala ab. Die Behörden behaupteten zunächst, Wischnewetskaja befände sich in einem anderen Gefängnis der Stadt. Auf diese Weise sollte offenbar ihr Strafverteidiger am Besuch seiner Mandantin gehindert werden.

Wo der Presseausweis nicht mehr schützt

Bei derselben Protestveranstaltung wurde auch Sergej Ajnbinder festgenommen. Sicherheitskräfte schlugen den Chefredakteur des Nachrichtenportals Rusnews.pro, beschlagnahmten und beschädigten seine Foto-Ausrüstung. Ajnbinder wurde nach einer Nacht in einer Polizeistation freigelassen. Es war bereits seine zweite Festnahme innerhalb kurzer Zeit: Schon zwei Tage zuvor – am 24. September – wurde er in der Moskauer Metro festgenommen. Zusammen mit ihm verhafteten Sicherheitskräfte in Machatschkala den Journalisten Idris Jusupow der dagestanischen Tageszeitung Nowoje Djelo vorübergehend.

Auch im nordrussischen Archangelsk ging die Polizei gegen Medienschaffende vor: Am 21. September wurde Jekaterina Parfjonowa vor einer geplanten Protestveranstaltung gegen die Teilmobilmachung festgenommen. Sicherheitskräfte nahmen der Reporterin der Nachrichtenseite Sota Presseausweis und Telefon ab und zerrissen ihre Jacke. Die Polizei verhaftete außerdem den Aktivisten und Journalisten Andrej Kitschow. Ihm wurde die Diskreditierung der russischen Streitkräfte vorgeworfen. Drei Tage später wurde der Redakteur der Nachrichtenseite Rusnews.pro am Rand einer geplanten Protestveranstaltung erneut festgehalten. Obwohl er eine gelbe Presse-Weste trug und sich mit seinem Presseausweis als Journalist ausweisen konnte, wurde ihm die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration vorgeworfen. Kitschow wurde ein Einberufungsbefehl ausgehändigt. Daraufhin entzog ihm seine Berufsschule den Studentenstatus, der ihn bis dahin gegen eine Einberufung zur Armee geschützt hatte.

Blogger wird in Polizeistation verprügelt

In Zentralrussland behinderten Sicherheitskräfte die Berichterstattung über Proteste in mehreren Städten: In Woronesch, 500 Kilometer südöstlich von Moskau, wurde der Blogger und Journalist Fjodor Orlow am 21. September während einer Reportage festgenommen. Dabei erlitt der Redakteur der Nachrichtenseite Sotavision Prellungen am Kopf. Auf der Wache wurde Orlow verprügelt und anschließend in Handschellen auf eisigem Betonboden liegengelassen. Ein Gericht verurteilte ihn zu 15 Tagen Haft wegen Verstoßes gegen die Regeln zur Durchführung einer Versammlung. Am selben Tag verhaftete die Polizei Nailja Mullajew in Kasan, der 800 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Hauptstadt Tatarstans. Der Journalistin wurde die Teilnahme an einer illegalen Aktion zur Last gelegt. Angeblich sei ihr Presseausweis nicht gültig, behauptete die Polizei: Ein Stempel ihres Arbeitsgebers Sotavision sei nicht lesbar. In Wladimir wurde Natalja Baranowa von der regionalen Nachrichtenseite Tomiks vorübergehend festgenommen und verhört.

Die Arbeit von mindestens vier Reporterinnen behinderten Sicherheitskräfte in der Metropole Jekaterinburg. Im Vorfeld einer geplanten Protestaktion am 24. September wurden in der Stadt im Ural Irina Salomatowa von Rusnews.pro, Kristina Chaker vom Internetportal Rosderschawa, Alewtina Trynowa von der Zeitung Wetschernije Wedomosti und Jelisaweta Dudina von Internetportal Sota vorübergehend verhaftet. Alewtina Trynowa wurde nach ihrer Freilassung ein zweites Mal verhaftet: Sie soll ihren Ausweis nicht bei sich gehabt haben.

Das russische Mediengesetz wurde nach Moskaus Großangriff auf die Ukraine massiv verschärft: Für die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russische Armee oder für die Diskreditierung der Tätigkeit der Streitkräfte drohen Medienschaffenden seit März bis zu 15 Jahre Gefängnis.

JX Fund hilft verfolgten Medienschaffenden

Um Medienschaffenden, die sich gezwungen sehen, ihr Land aufgrund von zu hohem politischen Druck zu verlassen, schnell und unbürokratisch dabei zu helfen, ihre Arbeit im Exil unmittelbar nach ihrer Flucht fortzusetzen, hat RSF gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung und der Rudolf Augstein Stiftung den  JX Fund – European Fund for Journalism in Exile ins Leben gerufen.

Seit seiner Gründung im April hat der JX Fund 33 Exilmedien aus Russland und Belarus in acht verschiedenen Ländern sowie den Ausbau eines Media Hubs in Georgien unterstützt. Anfang September wurde die Informationsplattform Shpargalka | Exile veröffentlicht – eine bedarfsorientierte Übersicht juristischer Regelungen in diversen Zielländern für bedrohte Medienschaffende, die sich gezwungen sehen, Russland zu verlassen. 

Im Oktober startet der Berlin Incubator for Media in Exile (BIMEX) - ein Programm, das unabhängige Medien aus Russland und Belarus dabei unterstützen soll, nachhaltige Strategien für die Arbeit im Exil zu entwickeln. Dazu gehören unter anderem eine rechtliche Beratung bei der Registrierung eines neuen Medienunternehmens, strategische Begleitung für den Aufbau neuer Redaktionsstrukturen sowie die Erschließung neuer Finanzierungsquellen.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Russland auf Platz 155 von 180 Staaten.

 

 



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