Marie Declerq

"Ich bin aus einem guten Grund nach Berlin gekommen"

"Es war ein sonderbares Gefühl, in Berlin anzukommen. Meine Gefühle waren gespalten: Für drei Monate in Berlin zu leben war ein aufregender Gedanke, aber zugleich waren mein Herz und meine Sorgen in Brasilien, wegen der Präsidentschaftswahlen – die ersten Wahlen seit der Amtsenthebung der früheren Präsidentin Dilma Roussef.

Von allen Wahlen war es diese, bei der ich am meisten wählen und über die ich am meisten schreiben wollte, zusammen mit meinen Kollegen bei VICE Brazil, wo ich seit fünf Jahren arbeite. Zuerst habe ich mich schuldig gefühlt, nicht in meinem Land zu sein und richtige journalistische Arbeit über die Wahlen zu machen, besonders wegen des Sieges von Jair Bolsonaro, einem sehr rechten Politiker. Er repräsentiert den Rückschritt bei den Menschenrechten in Brasilien. 

Aber ich bin aus einem guten Grund nach Berlin gekommen. Nachdem ich Morddrohungen von einer Online-Hassgruppe bekommen hatte, die mich über zwei Monate im Internet belästigte, weil ich Artikel über sie für VICE geschrieben hatte, habe ich mich für das Berliner Stipendienprogramm von Reporter ohne Grenzen beworben. Hier erhalte ich ein richtiges Training zu digitaler Sicherheit und lerne, dieses Wissen an andere Journalistinnen und Journalisten in Brasilien weiterzugeben.

Das Training und die wunderbaren Menschen, die ich während der Zeit des Stipendiums getroffen habe, haben mir geholfen, mit meiner Frustration und Enttäuschung zurechtzukommen, als Bolsonaro mit einem Erdrutschsieg gegen den Kandidaten der Arbeiterpartei, Fernando Haddad, gewann. 'Ehrlich gesagt war das meine schlimmste Befürchtung. Die Mitglieder der Gruppe, welche mich belästigte, sind große Unterstützer von Bolsonaro und sein Sieg rechtfertigt in ihren Augen all ihre Aktionen gegen mich und andere Journalisten und Aktivisten, die sich getraut haben, über die Internet-Hassverbrechen der Gruppe zu berichten.

Der Sieg der extremen Rechten in Brasilien bestärkt meinen Willen, zurück in mein Land zu gehen und all das Wissen über digitale Sicherheit zu anderen Journalistinnen und Journalisten zu tragen. Es wird immer normaler, in unserem Beruf über Soziale Medien Morddrohungen zu erhalten, deswegen denke ich, dass es keinen besseren Zeitpunkt für das Training gibt als jetzt. Ich vermisse jetzt schon Berlin, vor allem die Spätis und die schönen Museen, aber 2019 ist es Zeit, zurück nach Brasilien zu gehen um dort zu tun, was ich am besten kann."


Marie Declercq ist Stipendiatin des Berliner Stipendienprogramms von Reporter ohne Grenzen. Für drei Monate ist sie aus Brasilien nach Berlin gekommen, um an dem Training zum Thema digitale Sicherheit teilzunehmen.

Sie hat Recht in São Paulo studiert, das Thema ihrer Abschlussarbeit war "Paedophilia, Child Pornography and the Internet". Seit 2013 schreibt sie für VICE-Brasil. Ihre Themen sind vor allem Gender, Sexualität, Menschenrechte, Politik und Verbrechen in Brasilien. Die Kolumne „Crime & Punishment in Brazil“ ist 2017 durch Marie entstanden. Außerdem ist sie Moderation der Serie „Transe“, in der es um Sexualität in Brasilien geht.

Seit Mai 2018 erhält sie Morddrohungen einer extrem rechten Gruppe per Mail und über Social Media Kanäle, weil sie über die Gruppe geschrieben hatte. Die Gruppe ist bekannt dafür, online gegen Schwarze, Frauen und Menschrechtsaktivistinnen und -aktivisten zu hetzen.

Durch diese Drohungen wurde Declercq alarmiert, ihre digitalen Spuren und somit ihre persönliche Sicherheit besser zu schützen. Während ihrer Zeit in Berlin lernt sie Möglichkeiten kennen, sich gegen digitale Überwachung zu wappnen – und hofft, dieses Wissen in Brasilien an andere Journalistinnen und Journalisten weitergeben zu können.

Video: Bolsonaro ist Gefahr für Pressefreiheit

Reporter ohne Grenzen blickte angesichts der Präsidentschafts-Stichwahl alarmiert auf die Zukunft von Pressefreiheit und Demokratie in Brasilien. Marie Declercq äußert sich im Video kurz über die Gefahren durch Bolsonaro für eine freie Presse.
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