Pegasus-Projekt
19.07.2021
Höchste Zeit zu handeln
Als Feind des Internets prangerte Reporter ohne Grenzen das israelische Spyware-Unternehmen NSO Group im vergangenen Jahr an, nun belegt das „Pegasus-Projekt“, ein Recherche-Projekt von Süddeutscher Zeitung, Forbidden Stories und weiterer internationaler Medien, das Ausmaß der Menschenrechtsverstöße, die dessen Spähsoftware ermöglichte. Mehr als 180 Journalistinnen und Journalisten aus 20 Ländern befinden sich unter den Personen, die als mögliche Ziele von digitalen Übergriffen mithilfe der Spähsoftware „Pegasus“ identifiziert wurden. Teils fanden sich konkrete Spuren vergangener Angriffe. Reporter ohne Grenzen zeigt sich schockiert über die Vielzahl der Staaten, die Medienschaffende überwacht haben sollen, und fordert einen sofortigen Stopp des globalen Handels mit digitalen Überwachungstechnologien.
„Die Enthüllungen des Pegasus-Projekts müssen ein Weckruf sein: Die internationale Staatengemeinschaft muss dem globalen Handel mit Überwachungstechnologie jetzt einen Riegel vorschieben. Seit Jahren liegen Vorschläge für verbindliche Exportregeln auf dem Tisch, die endlich umgesetzt werden müssen“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Weltweit missbrauchen Staaten die zunehmenden Möglichkeiten digitaler Totalüberwachung, um Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger mundtot zu machen. Und Unternehmen wie die NSO Group und ihre Heimatstaaten nehmen dies billigend in Kauf. Nicht zu vergessen, dass auch mit deutscher Spyware zahlreiche Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Wer mehr als Lippenbekenntnisse zum Schutz der Pressefreiheit leisten will, muss nun endlich handeln.”
Reporter ohne Grenzen setzt sich bereits seit 2011 für wirksame Exportkontrollen von digitalen Überwachungsgütern und juristisch bindende Sorgfaltspflichten der Unternehmen ein. Berichte über die Rolle deutscher und europäischer Exporte bei der Überwachung und Inhaftierung von Menschenrechtsverteidigerinnen, Journalisten und Oppositionellen im Arabischen Frühling entfachten zu der Zeit eine Debatte über notwendige politische Reformen. Seitdem ist jedoch wenig geschehen; von einem „free-for-all“, einem gesetzlosen Handel, sprach der damalige UN-Sonderberichterstatter für die Meinungsfreiheit, David Kaye, 2019 anlässlich der Veröffentlichung eines Berichts, in dem er die zivilgesellschaftlichen Forderungen nach einem Moratorium auf Verkauf, Handel und Export digitaler Überwachungstechnologie und umfassenden Reformen aufgriff. Auch Reporter ohne Grenzen war Teil der Konsultationen für den UN-Bericht.
Drei Viertel der Unternehmen, die mit Spähsoftwareprogrammen wie „Pegasus“ handeln, stammen aus Europa, den USA und Israel. Während der zivilgesellschaftliche Einsatz für Reformen in Deutschland und der EU zu einer – wenn auch mehr als unvollständigen – Überarbeitung der gesetzlichen Vorgaben zum Export von digitaler Überwachungstechnologie führte, bleibt der internationale Handel weitestgehend unreguliert. Das bedeutendste internationale Abkommen, das sogenannte „Wassenaar Arrangement“, gleicht eher einer losen politischen Übereinkunft als einem wirksamen Kontrollinstrument. Israel, Hauptsitz der NSO Group, ist nicht Mitglied des Abkommens. Zwar nimmt die dortige Aufsichtsbehörde angeblich Bezug zur internationalen Kontrollliste, Informationen über die Kriterien der Lizenzvergabe oder einzelne Entscheidungen verwehrt die Behörde aber, gleiches gilt für das ihr übergeordnete Verteidigungsministerium.
NSO selbst hat wiederholt betont, man nehme seine „Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte ernst“, RSF und weitere NGOs warfen dem Unternehmen jedoch zuletzt im April 2021 in einem gemeinsamen Brief vor, dieses Versprechen wiederholt gebrochen zu haben. Zu den bereits bekannten digitalen Übergriffen auf Medienschaffende gehörten die Fälle der marokkanischen Journalisten Omar Radi und Aboubakr Jamaï. Auch dass das Umfeld von Jamal Kashoggi vor seiner Ermordung überwacht wurde, wurde schon länger vermutet.
Zu den nun neu aufgedeckten Zielen staatlicher Überwachung gehören unter anderem die aserbaidschanischen Journalistinnen Khadija Ismajilowa und Sevinc Vaqifqizi Abbasova, die derzeit Stipendiatin von RSF in Berlin ist. Weitere Telefonnummern auf der geleakten Liste anvisierter Ziele gehören der Chefredakteurin der FT, Roula Khalaf, sowie Mitarbeitenden von Wall Street Journal, CNN, New York Times, Al Jazeera, France 24, Radio Free Europe, Mediapart, El País, Associated Press, Le Monde, Bloomberg, Agence France-Presse, Economist, Reuters und Voice of America. Besonders schwer wiegt die Enthüllung, dass mit der ungarischen Regierung auch ein EU-Mitgliedstaat lokale Medienschaffende überwacht haben soll.
Neben der politischen und individueller Nothilfearbeit wird sich Reporter ohne Grenzen demnächst auch mit einem digitalforensischen Labor stärker für die Dokumentation und Aufarbeitung digitaler Übergriffe einsetzen. In mindestens der Hälfte der von RSF betreuten Nothilfefälle spielen digitale Übergriffe eine Rolle.
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