USA 05.06.2020

Plattformregulierung abseits des Populismus

© picture alliance / NurPhoto | Jaap Arriens

Erneut ist in den USA eine Debatte über die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung sozialer Netzwerke ausgebrochen. Twitter kennzeichnete vergangene Woche erstmals zwei Tweets des US-Präsidenten Donald Trump als irreführend, worauf dieser mit einer Durchführungsverordnung (Executive Order) „zur Verhinderung von Online-Zensur” reagierte. Die erste Klage gegen die rechtlich fragwürdige Verordnung ist bereits eingereicht. Der Streit selbst wurde von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt in den Hintergrund gedrängt, die Diskussion um Plattformregulierung jedoch bleibt. Reporter ohne Grenzen (RSF) mahnt zu einer informierten Debatte, die sich auf die strukturellen Ursachen der Konjunktur von Falschinformationen im Netz konzentriert. 

Am 26. Mai begann Twitter erstmals mit der Überprüfung von Fakten in Trumps Beiträgen und fügte „Get the facts"-Links zu zwei seiner Tweets hinzu, in denen er behauptete, dass die Möglichkeit der Briefwahl bei den Präsidentschaftswahlen 2020 zu massivem Wahlbetrug führen würde. Achtundvierzig Stunden später unterzeichnete Trump eine Executive Ordner, die eine Änderung jener US-Gesetzgebung fordert, die Online-Plattformen reguliert, insbesondere Section 230 des Communications Decency Act von 1996, der Online-Dienste vor der Haftung für von Nutzerinnen und Nutzern gepostete Inhalte abschirmt. Die rechtliche Grundlage für die Anordnung ist verschiedenen Einschätzungen zufolge dünn, die Organisation Center for Democracy and Technology reichte am Dienstag die erste Klage ein

Auch Facebook ringt derweil mit der Frage des angemessenen Umgangs mit einem Post des US-Präsidenten, den Twitter aufgrund seiner „gewaltverherrlichenden” Natur mit einem Warnhinweis versah. Facebook-Chef Mark Zuckerbergs Entscheidung, den Post unverändert sichtbar zu lassen, führte zum bisher größten öffentlichen Widerstand von Angestellten des Unternehmens. Das neu besetzte Facebook Oversight Board, dessen unabhängige Fachleute künftig als Mittel der Selbstregulierung über solche Streitfälle richten sollen, hat seine Arbeit noch immer nicht aufgenommen

„Angesichts ihres erheblichen Einflusses über die massenhafte Verbreitung von Nachrichten, Informationen, Meinungen und Ideen müssen soziale Medien einem adäquaten System der Regulierung unterstellt werden. Sie verfügen weder über die Legitimität noch die Ressourcen, redaktionelle Entscheidungen entsprechend den Prinzipien eines Nachrichtenmediums über die Inhalte von Hunderten Millionen Nutzerinnen und Nutzern zu treffen”, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen. „Die Revision der US-amerikanischen Gesetzgebung zur Regulierung von Onlinediensten ist eine legitime Forderung, sie muss jedoch der Meinungsfreiheit und dem Pluralismus dienen und auf Grundlage demokratischer Prinzipien erfolgen.”

Die bestehenden Systeme der Rechenschaftspflicht (oder mangelnden Rechenschaftspflicht) für Online-Plattformen und soziale Medien werden derzeit von vielen Seiten kritisiert. Auf EU-Ebene soll die Reform der E-Commerce-Richtlinie durch den Digital Services Act (DSA) eine zeitgemäße Regulierung schaffen, in den Vereinigten Staaten geht es unter anderem um eine mögliche Überarbeitung der Section 230. US-Regulierung von Onlinediensten ergibt sich durch ein Zusammenspiel verschiedener Rechtsgebiete

Wie die monatelangen Konsultationen und Vorarbeiten in Brüssel derzeit unterstreichen, ist dies kein leichtes Unterfangen. Die Haftungsfreistellung von Onlinediensten wird oft als Fundament der rapiden Entwicklung des heutigen Internets genannt. Bemühungen um Reformen zum Schutz vor Hassrede (Stichwort NetzDG) und zur Verhinderung der Verbreitung von terroristischen Inhalten und anderen kriminellen Aktivitäten im Internet sind allesamt mit der Frage konfrontiert, wie Inhalte geprüft und Straftaten verfolgt werden können, ohne Plattformen dauerhafte Überwachungs- und Filterpflichten aufzuerlegen, die die Informationsfreiheit im Netz massiv einschränken würden. Zugleich macht die Zunahme von Falschinformationen in der Corona-Krise effektive Maßnahmen gegen deren teils noch durch Algorithmen gestärkte Verbreitung umso notwendiger. 

Künftig müssen strukturierende Plattformen demokratische Prinzipien respektieren, wie sie in der Erklärung der Initiative „Information & Democracy” niedergelegt sind, die im November 2018 von einer internationalen Kommission von 25 Persönlichkeiten veröffentlicht wurde. Die Initiative führte am Rande der jüngsten UNO-Generalversammlung zur Gründung einer Internationalen Partnerschaft, die von 36 Regierungen unterzeichnet wurde. Sie ist eine von sechs konkreten Initiativen im Rahmen der von Außenminister Heiko Maas gestarteten Allianz für Multilateralismus. Die 36 Unterzeichnerstaaten, zu denen die Vereinigten Staaten nicht gehören, forderten die Plattformen auf, Transparenz zu zeigen und eine Reihe von Prinzipien zu respektieren, darunter die Notwendigkeit, die Verlässlichkeit von Informationen zu fördern.

Zusammen mit elf zivilgesellschaftlichen Organisationen hat RSF das Forum für Information und Demokratie ins Leben gerufen, dessen Ziel es ist, Expertinnen und Experten zusammenzubringen, um sich aus dem Paradigmenwechsel der öffentlichen Debatte ergebende Fragen zu erörtern und Empfehlungen für die Regulierung und Selbstregulierung zu formulieren.

Darüber hinaus hat RSF die "Journalism Trust Initiative" (JTI) ins Leben gerufen, die Kriterien eines professionellen Standards für vertrauenswürdigen Journalismus definiert. Plattformen könnten die JTI-Standards nutzen, um vertrauenswürdige Nachrichten und Informationen zu fördern, indem sie diese Indikatoren in ihre Algorithmen einbeziehen.



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