Türkei
14.04.2023
15 Punkte für die Pressefreiheit
Reporter ohne Grenzen (RSF) fordert die Kandidierenden zur Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei am 14. Mai auf, sich für den Schutz der Pressefreiheit einzusetzen. Zu diesem Zweck veröffentlicht RSF 15 Empfehlungen, unter anderem zu folgenden Themen: Was muss sich im Justizwesen ändern? Was ist zu tun, wenn Medienschaffende gewaltsam angegriffen werden? Welche Gesetze müssen reformiert werden? Die 15 Empfehlungen sollten während des Wahlkampfes öffentlich debattiert und anschließend vom Staatsoberhaupt, der Regierung und den Abgeordneten umgesetzt werden.
„Alle Kandidierenden bei den Wahlen in der Türkei sollten die Pressefreiheit aktiv verteidigen: Sie sollten sich für eine unabhängige Justiz einsetzen, Gesetze reformieren, Medienpluralismus fördern und Medienschaffende schützen“, forderte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Der Missbrauch des Strafgesetzbuchs und der Anti-Terror-Gesetze gegen die Presse muss endlich aufhören. Alle Gewählten sollten sich für eine unabhängige Medienaufsichtsbehörde starkmachen“, so Mihr weiter.
Ausgangslage: Geschwächte Medien
Offiziell versucht die Türkei seit 15 Jahren, Mitglied der Europäischen Union zu werden, und einige demokratische Reformen wurden dafür auch verabschiedet. Doch nach 20 Jahren unter Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) ist davon nicht viel übrig geblieben, der Autoritarismus hat in den vergangenen zehn Jahren stark an Boden gewonnen. 90 Prozent der Medien stehen inzwischen unter staatlicher Kontrolle. Kritische Medienschaffende werden häufig attackiert.
Im hyperpräsidialen System, das Erdogan 2018 eingeführt hat, steht die Justiz nahezu vollständig unter seiner Kontrolle. Die Anti-Terror-Gesetzgebung und das Strafgesetzbuch der Türkei wurden in den letzten Jahren dazu missbraucht, um circa 200 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit zu verfolgen. Von ihnen wurden mindestens 73 Medienschaffende seit der Wahl Erdogans zum Präsidenten im August 2014 wegen „Beleidigung des Präsidenten“ zu Haftstrafen oder Geldstrafen verurteilt.
Empfehlungen für Kandidierende der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen
RSF fordert die Kandidierenden der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen deshalb auf, das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit zu verteidigen. In der Türkei muss ein Klima geschaffen werden, in dem Pressefreiheit von allen politischen Lagern wieder aktiv geschützt wird, nachdem sie in den vergangenen 20 Jahren systematisch untergraben wurde. Zu diesem Zweck sollten alle Kandidierenden sich öffentlich verpflichten, die folgenden 15 Empfehlungen im Wahlkampf zu fördern und nach ihrer Wahl umzusetzen:
A – Kandidierende sollten sich für eine unabhängige Justiz einsetzen, damit diese ihre Funktion erfüllen und über Grundrechte wie die Pressefreiheit wachen kann.
1. Die türkische Justiz muss wieder unabhängig werden, dazu gehört:
- Die Unabhängigkeit des Obersten Rates der Justiz, damit die politische Einmischung in Verfahren, die Medienschaffende betreffen, endet. Auch bei der Ernennung von oder Disziplinarmaßnahmen gegen Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten darf es keine Einmischung seitens der Politik mehr geben.
- Die Unabhängigkeit der Friedensrichterinnen und Friedensrichter. Ihre Befugnisse müssen geändert werden, damit Missbrauch wie Festnahmen und Inhaftierungen von Medienschaffenden und Internetzensur künftig nicht mehr möglich sind.
2. Der Vorrang der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des türkischen Verfassungsgerichts; dies schreibt die türkische Verfassung von 1982 vor und ist für die Wahrung der Informations- und Pressefreiheit essentiell.
3. Für das Personal von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Polizei sind Schulungen zum Thema Pressefreiheit abzuhalten, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des türkischen Verfassungsgerichts, um Verfahren zu gewährleisten, die die Meinungs- und Pressefreiheit respektieren.
B – Kandidierende sollten sich für Gesetzesreformen einsetzen, um die Pressefreiheit zu stärken und den Missbrauch des Strafrechts gegen Medienschaffende zu unterbinden.
4. Gesetze zur Bekämpfung von Straftaten und von Terrorismus dürfen nicht gegen Journalistinnen, Journalisten und andere, die kritisch und unabhängig berichten oder ihre Meinung äußern, eingesetzt werden.
5. Das Strafgesetzbuch darf keine Waffe gegen die Pressefreiheit mehr sein: Gestrichen werden müssen die Artikel zur „Beleidigung des Präsidenten“ und zur „Verunglimpfung staatlicher Institutionen“; entkriminalisiert werden müssen die Tatbestände Beleidigung und Verleumdung (im Einklang mit den Empfehlungen der Venedig-Kommission); zu überarbeiten ist Artikel 217-A Strafgesetzbuch, der „Desinformation“ unter Strafe stellt.
6. Der Zugang zu staatlich verwahrten Informationen ist zu ermöglichen.
7. Journalistinnen und Journalisten müssen besser vor SLAPPs (Knebelklagen) geschützt werden.
C – Kandidierende sollten sich für die Unabhängigkeit von Medienkontrollgremien und Medien einsetzen.
8. Gremien, die für die Regulierung von Medien zuständig sind, müssen unabhängig und unparteiisch sein, darunter der Hohe Rundfunkrat (RTÜK), die Kommission für Presseausweise und die Agentur für die Verteilung von Werbeeinnahmen (BIK). Die Gremien müssen von jeglicher politischer Einflussnahme befreit werden.
9. Es muss ein transparenter Rechtsrahmen geschaffen werden, der verhindert, dass die Politik sich in die Eigentumsverhältnisse der Medien einmischen kann.
D - Kandidierende sollten die Pressefreiheit aktiv schützen.
10. Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten sollten öffentlich verurteilt werden. Sämtliche Angriffe müssen Gegenstand systematischer strafrechtlicher Ermittlungen werden, sodass die Verantwortlichen gefunden, verurteilt und bestraft werden.
11. Verbale Angriffe auf Medienschaffende sind aufs Schärfste zu verurteilen, ebenso sämtliche Versuche seitens Politikerinnen und Politikern, Medienschaffende zu diskreditieren.
12. Der unangemessene Einsatz internationaler Verfahren (einschließlich Interpol-Rot-Notizen und Ersuchen um internationale justizielle Zusammenarbeit), die sich gegen ausländische oder aus dem Land geflohene Medienschaffende richten, muss aufhören.
13. Sämtliche Fragen und Auskunftsersuchen der Medien sind offen und fair zu beantworten, sodass eine pluralistische, genaue und ausgewogene Berichterstattung möglich ist.
14. Die Praktiken und Mechanismen parlamentarischer Anhörungen müssen überprüft werden, um sicherzustellen, dass Fragen der Abgeordneten an die Regierung, besonders diejenigen, die die Pressefreiheit betreffen, beantwortet und nicht ignoriert werden.
15. Stärkung der Rolle parlamentarischer Untersuchungsausschüsse zur Lage der Medien und zur Ermordung von Journalistinnen und Journalisten.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180 Ländern.
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