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Türkei

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 158 von 180
Türkei 20.07.2017

Justiz muss Cumhuriyet-Mitarbeiter freisprechen

Protest vor Cumhuriyet-Gebäude 2016 © picture alliance / NurPhoto

Reporter ohne Grenzen fordert die türkische Justiz auf, die Anschuldigungen gegen 17 journalistische und sonstige Mitarbeiter der unabhängigen Tageszeitung Cumhuriyet fallenzulassen. Ihr Prozess beginnt am Montag (24. Juli) in Istanbul. Wegen der Berichterstattung der Zeitung werden ihnen Verbindungen zu verschiedenen „terroristischen“ Gruppen vorgeworfen. Ihnen drohen bis zu 43 Jahre Haft.

„Die Zeitung Cumhuriyet steht symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei. Eine Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Cumhuriyet-Mitarbeiter müssen freigesprochen und zusammen mit allen anderen in der Türkei inhaftierten Journalisten freigelassen werden.“

INTERVIEWANGEBOT: ROG-Geschäftsführer Christian Mihr wird den Prozess in Istanbul verfolgen und steht dort am Montag für Interviews zur Verfügung. Zur Terminabsprache wenden Sie sich bitte an presse@reporter-ohne-grenzen.de, Tel: (030) 609 895 33 55.

Elf der 17 Mitarbeiter sind schon seit sieben bis neun Monaten in Untersuchungshaft. Dazu gehören unter anderem der Chefredakteur Murat Sabuncu, der Kolumnist Kadri Gürsel, der Karikaturist Musa Kart und Bülent Utku, Vorstandsmitglied der Cumhuriyet-Stiftung. Sie wurden Ende Oktober 2016 festgenommen. Der Herausgeber der Zeitung, Akin Atalay, ist seit November inhaftiert. Polizisten hatten ihn nach der Rückreise aus Deutschland am Flughafen in Istanbul festgenommen.

Am 29. Dezember wurde der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik verhaftet, der ebenfalls gelegentlich für Cumhuriyet geschrieben hat. Er saß bereits 2011 und 2012 ein Jahr im Gefängnis, weil er den damaligen Einfluss der Bewegung des Predigers Gülen innerhalb des Staatsapparats kritisiert hatte.

Zu den weiteren inhaftierten Cumhuriyet-Journalisten gehören Önder Çelik, Mustafa Kemal Güngör, Hakan Karasinir, Güray Tekin Öz und Turhan Günay. Unter den Angeklagten sind zudem unter anderem der 76-jährige Kolumnist Aydin Engin, der wenige Tage nach der Festnahme Ende Oktober aus Altersgründen freigelassen wurde und der mittlerweile im Exil lebende ehemalige Chefredakteur Can Dündar. Den 17 Mitarbeitern drohen zwischen siebeneinhalb und 43 Jahren Haft.

Anklageschrift erst fünf Monate nach Festnahme

Erst Anfang April 2017 – rund fünf Monate nach der Inhaftierung zahlreicher Mitarbeiter – wurde die Anklageschrift vorgelegt. Darin wird ihnen die angebliche Unterstützung von terroristischen Organisationen vorgeworfen, darunter die Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.

Laut Anklageschrift soll sich die redaktionelle Linie von Cumhuriyet „radikal verändert“ haben, nachdem Can Dündar im Februar 2015 die Position des Chefredakteurs übernahm. Demnach habe die Zeitung danach angeblich die Ziele dieser Organisationen unterstützt.

Dündar sitzt bereits in einem anderen Verfahren zusammen mit Erdem Gül, dem Ankara-Büroleiter der Zeitung, wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation auf der Anklagebank. In einem weiteren Verfahren wurden Dündar und Gül bereits im Mai 2016 wegen vermeintlicher Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. zu fünf Jahren verurteilt. Gegen das Urteil haben beide Berufung eingelegt.

Ende Mai 2015 hatte die Zeitung Cumhuriyet Indizien für eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien veröffentlicht. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich drohte daraufhin, Dündar werde einen hohen Preis für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen. Dündar und Gül wurden Ende November 2015 verhaftet und saßen drei Monate in Untersuchungshaft.

Mitte Juni verurteilte ein türkisches Gericht den CHP-Abgeordneten und mutmaßlichen Informanten Enis Berberoglu wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Haft. Er soll ein Video über Waffenlieferungen an die Zeitung Cumhuriyet weitergegeben haben.

Dündar lebt mittlerweile im Exil in Deutschland. Reporter ohne Grenzen hat ihn unter anderem mit einem Stipendium unterstützt. Dündar hat das deutsch-türkische Online-Medium Özgürüz gegründet. Seit fast einem Jahr wird seine Frau Dilek Dündar daran gehindert, die Türkei zu verlassen.

Hexenjagd auf Kritiker in den Medien

Infolge einer Twitter-Nachricht, die die Cumhuriyet-Redaktion nach 55 Sekunden wieder löschte, wird inzwischen auch der Online-Chef der Zeitung, Oguz Güven, wegen Propaganda für die Gülen-Bewegung juristisch verfolgt. Ihm drohen zehneinhalb Jahre Haft. Mitte Juni wurde er nach einem Monat in Untersuchungshaft unter Auflagen freigelassen.

Ein Jahr nach dem Putschversuch im Juli 2016 ist die Lage der Pressefreiheit in der Türkei desolat. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Ausnahmezustand für eine beispiellose Hexenjagd auf ihre Kritiker in den Medien genutzt. Unter dem Vorwand, gegen die Putschisten vorzugehen, haben Regierung und Justiz Dutzende Medien geschlossen. Mit derzeit rund 165 Journalisten im Gefängnis ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Medienschaffenden weltweit. Rund 130 Medien bleiben geschlossen.

Auch der langjährige Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoglu, sitzt auf der Anklagebank. Ihm wird wegen der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion für die mittlerweile geschlossene pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vorgeworfen. Das Verfahren geht am 26. Dezember weiter.  

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern weltweit. In den vergangenen zwölf Jahren hat sich das Land um insgesamt 57 Plätze verschlechtert.



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