Türkei
23.08.2017
Politische Geiselhaft für Mesale Tolu beenden
Reporter ohne Grenzen ist bestürzt über die Entscheidung eines Richters in Istanbul, die Untersuchungshaft der deutschen Journalistin Mesale Tolu bis zum Beginn ihres Prozesses am 11. Oktober zu verlängern. Die Entscheidung wurde nach Angaben einer Anwältin Tolus damit begründet, dass Fluchtgefahr bestehe.
„Die Staatsanwaltschaft hat in dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft keinen glaubhaften Beleg präsentiert, um die absurden Anschuldigungen gegen Mesale Tolu zu stützen. Die Entscheidung, ihre Haft zu verlängern, zeigt erneut, dass von einer unabhängigen Justiz in der Türkei keine Rede sein kann“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Die Türkei muss Mesale Tolus unwürdige politische Geiselhaft endlich beenden. Die Bundesregierung sollte dies mit allem politischen und wirtschaftlichen Nachdruck einfordern.“
Tolu ist zusammen mit 17 weiteren Beschuldigten angeklagt, die zeitgleich mit ihr unter ähnlichen Vorwürfen festgenommen wurden. Konkret wirft ihr die Staatsanwaltschaft unter Berufung auf einen anonymen Informanten vor, sie sei ein Mitglied der in der Türkei verbotenen marxistisch-leninistischen Partei MLKP und habe regelmäßig an Veranstaltungen des „Sozialistischen Frauenparlaments“ teilgenommen, des Frauenflügels der Partei. Allerdings räumte der anonyme Informant in seiner Aussage ein, Tolu nicht namentlich zu kennen.
Als Beleg für den Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation verweist die Anklageschrift auf Tolus Tätigkeit für die linke türkische Nachrichtenagentur Etha, die das Gedankengut der MLKP verbreitet habe. Die Etha-Website ist in der Türkei seit 2015 per Gerichtsbeschluss gesperrt, die Agentur arbeitet aber weiter.
Außerdem erwähnt die Anklageschrift Tolus Anwesenheit bei Veranstaltungen, zu denen die legale Gruppierung „Sozialistische Partei der Unterdrückten“ (ESP) aufgerufen hatte. Bei mindestens einer dieser Veranstaltungen – der Beerdigung zweier bei einem Polizeieinsatz getöteter mutmaßlicher MLKP-Aktivistinnen im Dezember 2015 – fungierte Tolu als Dolmetscherin für einen Journalisten und übte damit eine journalistische Tätigkeit aus.
Tolu arbeitete für Radiosender und Nachrichtenagentur
Die 1984 in Ulm geborene Tolu legte 2007 die türkische Staatsbürgerschaft ab und ist seitdem ausschließlich deutsche Staatsbürgerin. Im Jahr 2014 zog sie nach Istanbul, um für den Radiosender Özgür Radyo zu arbeiten. Der Sender wurde wie viele andere Medien auch nach dem Putschversuch von Juli 2016 per Dekret geschlossen. Danach arbeitete Tolu in der Auslandsredaktion der Agentur Etha.
Tolus Untersuchungshaft wurde bislang damit begründet, dass die Staatsanwaltschaft zusätzliches Beweismaterial gegen sie sammeln müsse. Allerdings enthält die Anklageschrift keine neuen Indizien gegenüber dem, was schon kurz nach Tolus Festnahme bekannt geworden war. Der deutschen Botschaft war der Zugang zu der inhaftierten Journalistin zunächst verweigert worden. Inzwischen wird sie nach eigenen Angaben jeden Monat von Mitarbeiterinnen des deutschen Konsulats Istanbul besucht.
Tolus türkische Anwältinnen bekamen erst mit monatelanger Verzögerung Zugang zu ihren Akten, um ihre Verteidigung vorzubereiten. Ihre Mandantin können sie alle zwei Wochen besuchen. Kontakt zu ihren deutschen Anwältinnen konnte Tolu dagegen nicht aufnehmen, wie die Journalistin der Zeitung Neues Deutschland kürzlich in einem schriftlich geführten Interview berichtete.
Bei der Festnahme wurde Tolu von ihrem zweijährigen Sohn Serkan getrennt, der daraufhin zunächst bei Verwandten unterkam. Erst später durfte er auf eigenen Wunsch zu seiner Mutter ins Gefängnis ziehen. Tolu beschreibt ihn als so traumatisiert von den Ereignissen, dass er nicht von ihrer Seite weichen und den Gefängniskindergarten besuchen wolle. Spielzeug von außerhalb des Gefängnisses werde ihm von den Behörden verweigert. Kontakt zu ihrem Ehemann, der schon seit dem 5. April in einem türkischen Gefängnis festgehalten wird, darf Tolu nach eigener Darstellung nur per Brief halten.
Rund 170 Journalisten im Gefängnis
Anders als für Mesale Tolu gibt es für den deutsch-türkischen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der am 14. Februar in der Türkei festgenommen wurde, noch immer keine Anklageschrift und keinen Prozesstermin. Am Dienstag durfte er zum zweiten Mal seit seiner Inhaftierung vom deutschen Botschafter in der Türkei besucht werden.
Insgesamt sitzen in der Türkei derzeit rund 170 Journalisten im Gefängnis. Darunter Chefredakteur Murat Sabuncu, Kolumnist Kadri Gürsel, Herausgeber Akin Atalay und Investigativjournalist Ahmet Sik von der unabhängigen Zeitung Cumhuriyet. Gegen insgesamt 17 Mitarbeiter der Zeitung soll am 11. September in Istanbul der Prozess wegen angeblicher Verbindungen zu verschiedenen „terroristischen“ Gruppen fortgesetzt werden.
In der jüngsten Repressionswelle gegen Journalisten wurde am 10. August ein Haftbefehl für 35 Medienschaffende erlassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, sie hätten die verschlüsselte Messenger-App ByLock auf ihren Smartphones installiert; dies interpretiert die türkische Justiz als Beleg für eine Mitgliedschaft in der Organisation des Exil-Predigers Fethullah Gülen. Mindestens neun der Betroffenen wurden verhaftet, darunter der Online-Chef der unabhängigen Zeitung BirGün, Burak Ekici.
Weiterhin in Haft ist auch der französische freie Journalist Loup Bureau. Er wurde am 26. Juli im Südosten der Türkei nahe der Grenze zum Irak unter Terrorvorwürfen festgenommen und sitzt seit dem 1. August im Gefängnis Sirnak.
In Spanien sitzt derzeit auf Betreiben der Türkei der türkisch-schwedische Journalist Hamza Yalcin in Untersuchungshaft. Der 1984 nach Schweden emigrierte Journalist wurde am 3. August während seines Urlaubs aufgrund eines Interpol-Fahndungsaufrufs festgenommen worden. Die türkische Justiz wirft ihm Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor sowie „terroristische Beziehungen“ zur verbotenen linksextremen Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C); vom Vorwurf der Mitgliedschaft in der Partei wurde er in der Türkei schon zweimal freigesprochen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern weltweit.
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