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Türkei

Rangliste der Pressefreiheit — Platz 158 von 180
Türkei 04.06.2015

Schikanen gegen Medien vor der Parlamentswahl

© picture alliance / AP Photo

Reporter ohne Grenzen verurteilt die fortgesetzten Schikanen von Staatsführung und Behörden der Türkei gegen kritische Medien vor der Parlamentswahl am kommenden Sonntag. Während des Wahlkampfs sind Staatsanwaltschaften gegen mehrere oppositionelle Medien vorgegangen. In die Strafverfolgung der Zeitung Cumhuriyet und ihres Chefredakteurs Can Dündar hat sich Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich eingeschaltet.

„Präsident Erdogan muss endlich damit aufhören, Medien für seine politischen Zwecke einzuspannen und kritische Journalisten mit Prozessen zu überziehen“, sagt ROG-Geschäftsführer Christian Mihr in Berlin. „Wenn Medien ständigen Einschüchterungen der Behörden ausgesetzt sind und nicht mehr umfassend und kritisch berichten können, verlieren die Bürger die Chance zur selbständigen Meinungsbildung. Dann wird jede Wahl zur Farce.“

Im Wahlkampf haben der staatliche Rundfunk TRT sowie Medien mit Sympathien für das Erdogan-Lager wie schon vor früheren Wahlen der Regierungspartei AKP überproportional viel Sendezeit und Berichterstattung eingeräumt. Oppositionelle Parteien finden hingegen kaum Erwähnung. So berichtete TRT im Wahlkampf alleine bis Mitte April eine Stunde und 20 Minuten über Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu, aber nur 15 Minuten über die pro-kurdische Demokratische Volkspartei HDP. Die oppositionellen Mitglieder der Rundfunkbehörde RTÜK rügten jüngst in einer gemeinsamen Erklärung, einige Fernsehkanäle übertrügen ausschließlich Reden von Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu.

Am 18. Mai – keine drei Wochen vor der Wahl – bat die Staatsanwaltschaft Ankara den Satelliten- und Kabelnetzbetreiber Türksat, mehrere oppositionelle Medien nicht mehr auszustrahlen, darunter die landesweiten Fernsehsender Samanyolu TV und Bugün TV.

Klagen und Verbalattacken auf kritische Journalisten

Gleichzeitig werden kritische Journalisten verbal angegriffen und unter Druck gesetzt – nicht zuletzt von Erdogan selbst. Zuletzt beschuldigte der Präsident etwa den Chefredakteur der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, der Spionage. Cumhuriyet hatte am 29. Mai Fotos und ein Video veröffentlicht, die eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien nahelegen. Daraufhin drohte Erdogan im TRT-Fernsehen, der Journalist werde einen hohen Preis für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen. Er selbst habe eine Klage gegen Dündar wegen Spionage eingereicht.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt auf Grundlage eines Anti-Terror-Gesetzes gegen Cumhuriyet und Dündar und fordert nach dessen Angaben zweimal lebenslänglich plus 42 Jahre Haft für den Chefredakteur. Die Staatsanwaltschaft Istanbul ordnete die Sperrung aller Internetberichte an, in denen die inkriminierten Fotos vorkamen.

Allein im Mai wurden mehrere Klagen gegen die Zeitung Hürriyet angestrengt. Erdogans Anwalt Rahmi Kurt verklagte das Blatt, weil es zum Hass und zum bewaffneten Aufstand gegen die Regierung aufgestachelt habe. Stein des Anstoßes war eine Schlagzeile zum Todesurteil gegen den früheren ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi: „Die ganze Welt im Schock: Todesurteil für einen mit 52 Prozent gewählten Präsidenten.“ Für eine kritische Kolumne über Korruption in der Regierung wurden Hürriyet und einer ihrer Autoren, Mehmet Yilmaz, Ende Mai zu Schmerzensgeldzahlungen an Erdogan verurteilt.

Heikle Themen werden mit Nachrichtensperren belegt

Zur gängigen Praxis der türkischen Behörden gehören inzwischen Nachrichtensperren über unliebsame Themen wie Korruptionsskandale oder Angriffe der türkischen Armee in den Kurdengebieten. Als etwa im Juni 2014 türkische Diplomaten im Nachbarland Irak durch Mitglieder der Dschihadistengruppe Islamischer Staat entführt wurden, untersagte die Regierung den türkischen Medien jede Erwähnung des Vorfalls.

Jüngst verbot die Regierung jegliche Berichterstattung über die tödliche Geiselnahme mutmaßlicher Linksextremisten in einem Istanbuler Gerichtsgebäude am 31. März. Fernsehsender mussten ihre Live-Übertragungen einstellen, der Print- und Fernsehjournalist Ece Aydin wurde vorübergehend festgesetzt. Der dänischen Journalistin Nanna Muus drohte ein Polizist, sie solle in ihr Land zurückgehen, sonst werde man sie verhaften.

Von der Trauerfeier für die getötete Geisel wurden mehrere Medien ausgeschlossen, darunter zwei Nachrichtenagenturen (Cihan und Dogan), zehn Zeitungen (Zaman, Hürriyet, Posta, Sözcü, Taraf, Millet, Cumhuriyet, Ortadogu, Yenicag and Birgün) und fünf Fernsehsender (Samanyolu TV, IMC TV, Kanaltürk, CNN Türk und Bugün). Gegen die Zeitungen Hürriyet, Cumhuriyet, Posta and Bugün eröffnete die Staatsanwaltschaft Istanbul Verfahren und warf ihnen mit Verweis auf Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes Propaganda für eine terroristische Organisation vor. Die Zeitungen hatten ein Bild der später getöteten Geisel in der Gewalt der Täter veröffentlicht.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei Platz 149 von 180 Ländern. Derzeit sind dort drei Journalisten in Haft.



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